Chemikerin Miriam Unterlass: "Für mich ist der Donaukanal eine Freiluftgalerie"

Die Chemikerin Miriam Unterlass studiert gern Graffitis am Wiener Donaukanal.
Julia Rotter

„Ich halte mich sehr gern am Donaukanal zwischen Friedensbrücke und Schwedenplatz auf. Dort am Wasser gehe ich fast jeden Tag, meistens spätabends, spazieren. Manchmal mit Freunden, dann auch wieder allein. Ich interessiere mich sehr für Graffitis und schaue sie mir auch gern in anderen Städten an, aber kaum welche sind so gut wie jene in Wien am Kanal. Es gibt erstaunlich viele, und doch ändert sich das Bild immer wieder unglaublich schnell. Gefühlsmäßig sieht es dort jede Woche anders aus. Für mich entspricht das Ganze einer Freiluftgalerie ohne Öffnungszeiten, was einem Gefühl von Freiheit gleichkommt. Für mich sind die dort sichtbaren Arbeiten definitiv Kunst, es gibt ja auch den Begriff 'vandalist art'. Bin ich in Begleitung dort, entstehen immer wieder interessante Gespräche über die Motive, Farben et cetera.

Mittlerweile habe ich seit gut zehn Jahren die Angewohnheit, dorthinzugehen. Ich mag es an ­einsamen Abenden im Winter genauso gern wie im Sommer, wenn dort viele Menschen zusammenkommen. Mit den Sprayern und Sprayerinnen komme ich eigentlich nie in Kontakt. Wahrscheinlich, weil es meistens schon dunkel ist, wenn ich dort bin. Mir gefällt einerseits die Veränderung, zweitens die Tatsache, dass es sich um einen sehr großen Ort handelt, in dem ich mich bewegen kann, und dann ist da, wie gesagt, die Vielseitigkeit der Kunst zwischen Street-Art und Graffiti.

Wenn dieser Ort für mich wegfiele, wäre das sehr, sehr schade. Ich habe vor kurzem einige Zeit im arabischen Raum verbracht, in einer am Reißbrett entstandenen und in einem Jahr erbauten Satellitenstadt aus der Retorte. Selbst die Wohnungen sind komplett eingerichtet. Und das, noch bevor jemand eingezogen ist. Die Atmosphäre, die ich erlebt habe, ist das Reziprok zu dem, was ich am Kanal erfahre, wo alles unter der vollen Partizipation der Wiener Bevölkerung stattfindet. Ich finde das fantastisch.“

Miriam Unterlass ist Chemikerin und Professorin für Festkörperchemie an der Universität Konstanz und Gruppenleiterin am CEMM Zentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Unterlass wurde mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht. Sie unterrichtet Scientific Graphic Design an mehreren europäischen Universitäten.

unterlasslab.com

Künstler Heimo Zobernig: "Das Café Feldhase ist ein Mischwesen"

Heimo Zobernig isst und ist gerne im Café Feldhase.
Julia Rotter

„Mir war der Begriff vom dritten Ort zuvor nicht wirklich so bewusst, ich habe derer viele. In diesem Fall wähle ich gerne das Café Feldhase im Sonnwendviertel im zehnten Wiener Bezirk. Einst war das Gelände dort Brachland, auf dem Feldhasen lebten. Ihnen verdankt das Café, das seit circa drei Jahren besteht, seinen Namen. Mein Atelier befindet sich übrigens im selben Gebäude. Die Frequenz meiner Besuche variiert. Manchmal bin ich vier bis fünf Mal pro Woche dort, es kann aber auch sein, dass ich eine ganze Woche gar nicht hinkomme.

Meistens esse ich im Feldhasen und kaufe diverse Dinge ein. Es gibt ausgezeichnete Bio-Produkte, wie zum Beispiel ganz ungewöhnliche Zitronensorten und wunderbares Gemüse. Hier treffe ich immer wieder meinen Sohn, Bekannte und Atelierbesucher zum gemeinsamen Mittagessen. Es gibt sehr liebevoll zubereitete vegetarische Speisen.

Als ich nach Wien gekommen bin und die Soziologie der Wiener Kaffeehäuser kennengelernt habe, wunderte ich mich über die sogenannten Dichter dort, echte und Möchtegernkünstler und
-künstlerinnen. Ich fand es seltsam, wie sich in dieser durchstrukturierten Gesellschaft ein freies 'Ich' finden könnte, in dieser hierarchischen Ordnung von Ober- und Unterkellner und der Ordnung der Stammtische.

Das Lokal Feldhase ist eben kein Kaffeehaus in diesem Stil. Es ist ein Mischwesen in vielerlei Hinsicht. Es gefällt mir architektonisch, hat Ausblicke in drei Richtungen, sogar Licht von oben, ist zweigeschoßig, akustisch ruhig, es gibt keine Musik­beschallung, die Atmosphäre ist offen und freundlich, in einem Gebäude, das mit seiner nachhaltigen Gestaltung und Energieeffizienz ein Musterhaus ist. Die Café-Möblierung eignet sich für ergonomische Studien, hier findet man verschiedenste Sitzmöbel und Tische. Ich habe keinen Stammplatz. Nichts gegen Gewohnheiten, aber das wäre mir zu unbeweglich.

Ich bin derart vertraut mit diesem Ort, dass ich mich nicht beobachtet fühle. Meine Intimität bleibt aufrecht, obwohl es sich um einen öffentlichen Raum handelt. Wenn es ihn nicht mehr gäbe? Daran mag ich gar nicht denken. Ich bin sehr froh, dass es das Café Feldhase für mich gibt.“

Heimo Zobernig studierte in Wien an der Universität für angewandte Kunst und der Akademie für bildende Kunst, wo der Maler und Bildhauer auch als Professor für Bildhauerei wirkte. Seine Arbeiten wurden und werden in den renommiertesten Galerien und Museen auf der ganzen Welt gezeigt.

heimozobernig.com

Museumsdirektorin Lilli Hollein: "Museen sind kulturelle Häfen"

Lilli Hollein fühlt sich in vielen Museen wohl, nicht nur im "eigenen".
Julia Rotter

„Als dritten Ort das Museum zu wählen, das in meinem Fall ja auch als Arbeitsplatz um Platz eins oder zwei rittert, verstößt hier vielleicht gegen die 'Spielregeln', aber ich kann es erklären. Als ganz normales Kind war mir natürlich auch manchmal ganz normal fad, wenn wir von den Eltern stundenlang, egal wo auf der Welt, durch ein Museum geschleift wurden.

Mein Bruder und ich scherzen mitunter bis heute, dass der Grund, warum wir mittlerweile beide Museen leiten (wobei seines noch ein bisschen größer ist), darin liegt, dass uns gar nicht bewusst war, dass es auch noch etwas anderes gibt im Leben. Aber keine Sorge, wir waren auch Ski fahren und wandern, lediglich Strandurlaub fiel unseren Eltern schwer, sosehr mein Vater die Form von Palmen auch geliebt hat. Weit und breit kein Museum, das ging dann eben doch nicht.

All das hat mich geprägt. Ich liebe Museen. Das Museum für angewandte Kunst, dass ich leite, natürlich allen voran. Aber auch meine Freizeit (wobei ich die Übergänge zwischen meinem Berufs- und Arbeitsleben durchaus verbunden sehe) verbringe ich wirklich gerne in Museen. Wenn wir zum Wochenendspaziergang aufbrechen, heißt es oft: Hast du deine ICOM-Museumskarte vom Inter­national Council of Museums dabei? Weil man immer noch irgendwo schnell einkehren kann, zum Beispiel vom Naschmarkt in die Secession. Auch Strand und Museum lassen sich bestens verbinden, wie meine Tochter und ich begeistert feststellen. Unter den Palmen von Nizza das Meer genießen und dann zum Beispiel in die Fondation Maeght ­pilgern.

Das Museum, egal welcher Größe und welcher Art, ist für mich ein sicherer Hafen, eine Anlaufstelle, egal wo. Es erzählt mir über die Bedeutung von Kultur an dem Ort, an dem ich mich befinde. Ich empfinde in Museen eine gewisse Geborgenheit, idealerweise sind einem sowohl die Exponate als auch die anderen Anwesenden sympathisch.

Ich schätze auch sonderbare Museen, kleine, privat gegründete Ausstellungsräume, die von Sammelleidenschaft und Spezialwissen erzählen. Und ich muss es endlich einmal ins Schnaps-Museum schaffen, dessen Wegweiser man in Wien sieht, zu dem ich aber noch nie abgebogen bin.

Nach einem Museumsbesuch fühle ich mich bereichert. Selbst wenn es einem aus irgendeinem Grund nicht gefallen sollte, hat man doch immer eine intensive Auseinandersetzung hinter sich, man hat etwas getan, ein paar Kilometer auf dem kulturellen Schrittzähler mehr. Es ist für mich unvorstellbar, dass es einen Abschnitt in meinem Leben geben könnte, in dem Museen keine Bedeutung mehr für mich hätten. Ich kann nicht sagen, wie viele Museen ich in meinem Leben besucht habe, aber ich freue mich auf neue Bekanntschaften und alte Vertrautheit.“

Lilli Hollein war unter anderem Kommissärin für den österreichischen Beitrag zur Architekturbiennale in São Paulo und Mitbegründerin der Neigungsgruppe Design, die 2006 die Vienna Design Week ins Leben rief. Seit 2021 ist sie Direktorin des Wiener Museums für angewandte Kunst.

mak.at

Keramikkünstlerin Onka Allmayer-Beck: "Der Stephansdom erdet mich"

Onka Allmayer-Beck verbringt regelmäßig Zeit im Stephansdom.
Julia Rotter

„Mein sogenannter dritter Ort ist ganz eindeutig der Wiener Stephansdom. Abgesehen von meinem katholischen Background steht er für mich unter anderem für das Wienerische. Für mein Wienerisches. Ich bin im Viertel rund um den Dom aufgewachsen, und er hat für mich mein Leben lang eine große Rolle gespielt. Auf dem Weg von meinem Zuhause beim Wiener Stadtpark zu meiner Werkstatt beim Stoß im Himmel komme ich auch heute täglich an ihm vorbei. Bis zu vier Mal.

Der Bezug zu ihm ist mannigfaltig. Mein Vater zum Beispiel war Ministrant im Dom, als die neue Pummerin 1952 zum ersten Mal läutete. Ich weine manchmal bis heute, wenn sie erklingt. Das hat jetzt weniger mit dem Glauben zu tun. Es ist eine Art von Gerührtsein.

Der Dom war und ist einfach immer da. Ich sehe ihn sogar von meinem Küchenfenster aus. Er erdet mich. Sein Inneres besuche ich mindestens zwei-, dreimal pro Woche. Wenn etwas Gutes oder Schlechtes passiert, noch öfter. Manchmal halte ich mich nur für drei Minuten darin auf. Auch wenn er voll von Touristen ist, findet man immer ein Platzerl, auf dem man in Ruhe sitzen kann. Ich weiß mittlerweile auch, wie die kleine Bank ganz vorn im linken Teil genannt wird, nämlich 'Geisterbahnwagerl'. Wahrscheinlich weil nur zwei Personen darauf Platz finden. Wenn ich im Dom bin, schaue ich. Es gibt immer wieder etwas Neues zu entdecken. Zahlreiche meiner Keramikentwürfe sind vom Dom in­spiriert. Ich habe mich nach 44 Jahren noch nicht an ihm sattgesehen. Der Bau hat einfach etwas Seelenvolles.

Kommunikation findet hier eher weniger statt, aber man kennt natürlich schon die eine oder den anderen vom Sehen. Die Messe besuche ich auch hin und wieder. Am liebsten, wenn sie von einem bestimmten Priester gelesen wird, der mich an einen Sprecher aus der Sendung mit der Maus erinnert.

Auch auf den Turm steige ich dann und wann. Meistens wenn ich Besuch von jemandem bekomme, der nicht aus Wien stammt. Ich werde dann immer nach all den Gebäuden gefragt, die man von dort oben sieht, und die Hälfte kann ich nicht benennen. Das ist mir ein bisschen unangenehm.

Ich habe vier Jahre in England und zwölf Jahre in Italien gelebt. Während dieser Zeit verspürte ich durchaus Sehnsucht nach dem Dom, und jedes Mal, wenn ich in Wien war, führte mich mein Weg zu ihm. Er ist für mich eine Definition von ­Heimat.

Was ich an meinem dritten Ort nicht mag? Dass ich meinen Hund nicht mit hineinnehmen darf. Er heißt Knurrli und ist eine Mops-Labrador-Mischung.

Ich verfüge übrigens auch über einen vierten Ort, das ist ein kleines Türmchen in unserem Haus in Tirol. Und der fünfte Ort? Das sind die Kaffeehäuser, die ich regelmäßig besuche.“

Onka Allmayer-Beck studierte am Central Saint Martins College of Art and Design in London, zog dann nach Mailand, wo sie u. a. als Modedesignerin für Strenesse und Giorgio Armani tätig war. Heute ist sie als Keramikkünstlerin in Wien tätig.

onkaallmayerbeck.com

Künstler Franz Josef Baur: "Das Fitnessstudio wurde zu einem Anker"

Franz Josef Baur wird im Fitnessstudio nicht nur fitter, sondern auch inspirierter.
Julia Rotter

„Für mich ist das Fitnessstudio Crossfit Town Wall im ersten Bezirk mein Rückzugsort aus dem Alltag, mein dritter Ort. Es ist ein Raum der Begegnung, der Bewegung und der persönlichen Her­ausforderung. Als Künstler verbringe ich sehr viel Zeit allein in meinem Atelier. Deshalb ist es mir wichtig, einen Ort zu haben, an dem ich aktiv mit Menschen interagieren kann. Mir geht es dabei um Menschen verschiedenster Hintergründe und Denkweisen.

Diese Begegnungen bereichern nicht nur mein soziales Leben, sondern fließen durchaus auch in meine künstlerische Arbeit ein. Durch den Austausch mit anderen entstehen neue Ideen, das Ganze schenkt mir Inspiration und Perspektiven.

Des Weiteren begegne ich Menschen, mit denen ich gemeinsam ein Ziel verfolge. Wir teilen Zusammenhalt, Motivation und den Willen, unser Trainingsziel zu erreichen. Indem wir uns gegenseitig unterstützen und ermutigen.

Der Raum ist für mich zusätzlich zu einem wichtigen Anker geworden, der sowohl meine innere als auch meine äußere Gesundheit stärkt. Ich habe seit Jahren immer wieder mit Angstattacken zu kämpfen, und für mich hat sich gerade der Sport als ein wertvolles Werkzeug erwiesen, um sich dieser Angst täglich stellen zu können.

Am meisten am Herzen liegt mir die Gemeinschaftsfläche, also jener Platz, an dem wir gemeinsam als Gruppe trainieren. Dort steht auch ein ­Regal mit einer Vielzahl von Kettlebells und Gewichten.

Einerseits ermöglicht mir der Sport, meinen Körper bewusst zu spüren – sei es das Ansteigen des Blutdrucks, das Schwitzen oder andere körperliche Reaktionen – und gleichzeitig zu erkennen, dass dabei nichts Schlimmes passiert. Andererseits hilft mir regelmäßige körperliche Betätigung, eine Balance zu finden und meinen Körper besser kennenzulernen. Die positiven Veränderungen, die ich nach dem Sport an und in meinem Körper wahrnehme, verstärken dieses Gefühl der körperlichen und geistigen Ausgewogenheit zusätzlich. Es ist also ein Gewinn auf allen Ebenen.

Es ist wirklich schwer vorstellbar, was passieren würde, wenn dieser Raum plötzlich wegfallen würde, und ich möchte mir diese Situation ungern ausmalen. Mein erster Instinkt wäre es, so schnell wie möglich nach einem neuen Raum zu suchen, in dem ich mich mit anderen Menschen austauschen und mit ihnen interagieren kann.

Man könnte auch sagen, der dritte Ort ist für mich wie die Farbe auf meiner Lebensleinwand. Also der Raum, der allem einem Sinn gibt.“

Franz Josef Baur wurde in Bad Saulgau in Süddeutschland geboren. Er ist Konzeptionskünstler, Pop-Art-Künstler, Grenzgänger zwischen den Welten Kunst und Mode. Nach Jahren in Berlin hat er Wien zu seiner Heimat gemacht. Seine Werke waren u. a. bei der Artweek in Miami zu sehen.

fjbaur.net

(Aufgezeichnet von: Michael Hausenblas, 14. 4.2024)