Wuzhen China Wasserstadt
Verkehrslärm gibt es hier nicht. In der Wasserstadt Wuzhen bewegt man sich, wenn nicht auf Kähnen, so zu Fuß fort.
Margarete Affenzeller

Um 9 Uhr vormittags öffnet Wuzhen seine Tore. Dann gehen die Balken hoch für die enthusiastischen chinesischen Besucherinnen und Besucher, die diese außergewöhnliche, zu den Top-Ten-Destinationen der Volksrepublik zählende Wasserstadt täglich besuchen. In einem sich technologisch rasant entwickelnden Land, in dem Gegenwart und Zukunft alles sind, erscheint die 1300 Jahre alte Siedlung an den südlichen Ausläufen des Jangtsekiang wie die schönste Versicherung einer guten Vergangenheit.

Hinter den Schranken offenbart sich eine Oase der Herrlichkeit. Hier, etwa 100 Kilometer südwestlich von Schanghai, taucht man ein in eine historische Welt chinesischer Kultur. In den Neunzigerjahren stand das Agglomerat alter Häuser, Höfe und Gassen, aus Stein und Holz gebaut, knapp vor dem Verfall. Eine umfassende Revitalisierungsaktion hat Wuzhen damals in zweierlei Hinsicht neu etabliert: sowohl als Freilichtmuseum vergangener Epochen wie auch als kulturelles Zentrum der Gegenwart, gesponsert von der Wuzhen Tourism Co., Ltd. Am Rand des historischen Areals entstanden große Theater, Museen und Veranstaltungshallen, die heute Austragungsort für Kongresse und Festivals sind. So findet hier seit 2014 jährlich die von der chinesischen Regierung veranstaltete World Internet Conference statt.

Muxin Art Museum Wuzhen Grand Theatre
Neben dem Muxin Art Museum in Wuzhen liegt das einer Lotusblüte nachempfundene Grand Theatre, das mit seinen 2000 Plätzen eine der Spielstätten des alljährlich im Herbst stattfindenden Theaterfestivals ist.
Margarete Affenzeller

Die Natur sprießt subtropisch. Es dunstet. Kilometerlang begleiten Pelargonien entlang der Autobahnringe am Flughafen Schanghai die Anreise und zeigen, dass hier auch Ende Oktober noch alles üppig gedeiht. Gleich nach dem Stadt-Check-in säumen Palmen, Pampelmusenbäume und exotische Gräser die einzige schmale Asphaltstraße am Rande der denkmalgeschützten Zone. Der Verkehrslärm bleibt draußen. Hier kurven ausschließlich offene Elektrotaxis mit anreisenden Touristen herum. Der Rest des historischen Wasserdorfs ist nur zu Fuß oder per Boot zu durchqueren. Wer dann von einer der alten Steinbrücken auf die von Holzkähnen elegant durchpflügten Kanäle blickt, kann die Idylle kaum fassen. Gäste fläzen entspannt am Ufer – ohne Posen für Wechat (das chinesische Whatsapp) geht es aber nicht. Sogar Koifische lassen sich an der Wasseroberfläche blicken. Manchmal, auf höher gelegenen Stellen, erhascht man einen Blick hinaus auf den großen Beijing-Hangzhou-Kanal.

Bargeld ist inexistent

Die beiden über eintausend Jahre alten, heute dörflich wirkenden Stadtteile Wuzhens, Xizha (Westen) und Donghza (Osten), katapultieren den Besucher in eine längst vergangene Welt Chinas. Wer über die ruppigen Pflasterwege und Bogenbrücken des weitverzweigten Kanalsystems spaziert und auf der Treppe einer Kahnstation wartet, kann zumindest erahnen, wie es vor vielen Hundert Jahren gewesen sein könnte. Nichts Modernes trübt den Blick, unter den alten geschwungenen Dächern wähnt man das einfache Leben. Manches Haus verfügt noch über eine alte, gemauerte Garküche. Die chinesischen Besucher versichern sich hier ihrer Kultur und Vergangenheit, einige von ihnen kommen eigens in feierlicher traditioneller Kleidung – fürs Foto.

Heute beherbergen vor allem die alten Häuser im Westteil Museen, Geschäfte und vor allem Restaurants. Da lugt hinter Holzfassaden auch das eine oder andere Klimageräte hervor. Westliche Kreditkarten funktionieren meist, aber nicht überall. Bargeld ist inexistent, alles wird vom Handy aus erledigt, sogar bei der betagten Garküchenoma in einer weniger überlaufenen Gasse prangt ein QR-Code fürs schnelle Bezahlen an der Holzwand. Entenhälse sind als Zwischendurch-Snack der Renner.

Auch in China wurde das Blaudruckverfahren praktiziert - in Wuzhen erfährt man, wie es funktioniert.
Auch in China wurde das Blaudruckverfahren praktiziert – in Wuzhen erfährt man, wie es funktioniert.
Margarete Affenzeller

Eine der außergewöhnlichen Adressen ist das Museum für die Fußbindetradition, das sich mit seinen unendlich kleinen, wertvoll verzierten Schühchen für Mädchen und Frauen über mehrere ebenerdige Räume erstreckt. Sie erzählen die Geschichte dieser heute auch in China als Folter anerkannten, jahrhundertealten Gepflogenheit, Frauen mittels des Schönheitsideals des sogenannten Lotosfußes zu unterwerfen. Es herrscht Fotografierverbot. In den Schaukästen liegen Schuhe für diverse Anlässe: Hochzeit, Schlafen, Sarg et cetera.

Es wird nichts beschönigt. Kleine Füße hinderten die Frau nicht nur an der Fortbewegung, zum Beispiel sollten die Bettschuhe auch dazu dienen, den Mann sexuell zu stimulieren. Ab dem Alter von fünf Jahren, wenn die Knochen noch weich und biegsam sind, wurden die Füße in mehreren Etappen geschnürt. Sarkastischerweise oblag es den Frauen, ihre Wunschverzierung auszusuchen. Die Beschriftungen der Exponate sind weitgehend auf Englisch zu lesen. 2006 starb die letzte noch lebende Frau, der die Füße geschnürt wurden.

Chinesischer Blaudruck

In Wuzhen findet man chinesische Kultur kompakt. Insbesondere im Dongzha-Teil offenbart sich das sprichwörtliche Freilichtmuseum. Hier geht man mit chinesischer Handwerkskunst und Alltagskultur auf Tuchfühlung, man streift etwa durch eine Ansammlung menschhoher alter Tonkrüge, in denen Soja für die Sojasauce schlummert. Ein paar Gassen weiter geht es um Reisweinherstellung (mit Verkostung), wieder etwas weiter um Eisengießerei. Oder um die Kunst des traditionellen Schiffbaus, um Kleidungstraditionen, um das historische Wohnen, insbesondere die Bettkultur, oder ums Essen – in jedem Gehöft erfährt man etwas Neues.

Man wandert inmitten alter Materialien und Stoffe durch die Vergangenheit, ein Manufactum-Gefühl stellt sich ein. Alles so schön ursprünglich hier. Inklusive der Pflanzen- und Vogelwelt. Es zwitschert intensiv. Plötzlich hängen in einem Hof riesige blaue Stoffbahnen von hohen Balken herab. Die als Unesco-Weltkulturerbe geltende Blaudrucktechnik war auch in China verbreitet. Hier erfährt man, wie der Stoffveredelungsprozess funktioniert – und natürlich kann man Souvenirs kaufen. Allein in dem zum Museum umgewandelten letzten Wohnhaus des aus Wuzhen stammenden, ebenda nach einem langen Leben im New Yorker Exil verstorbenen Malers und Schriftstellers Mu Xin könnte man einen Tag verbringen. Ihm und seiner Kunst ist im modernen Teil der Stadt ein großes Museum gewidmet. Es liegt – wie könnte es anders sein – mitten im Wasser. (Margarete Affenzeller, 21.4.2024)