Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, hat am Mittwoch eine Gesetzesreform erlassen, die Wahlbetrug erschweren und die Transparenz, etwa bei den kommenden Lokalwahlen im Herbst, sicherstellen soll. Schmidt hatte bereits im Dezember die Koalitionsregierung aufgefordert, dieses "Integritätspaket" auf demokratische Art und Weise ins Parlament einzubringen. Doch einige Koalitionsparteien, allen voran die kroatisch-nationalistische HDZ, arbeiteten dagegen.

Kritik an Schmidts Entscheidung gab es nun seitens der EU, die seit langem in Konkurrenz zum Amt des Hohen Repräsentanten steht. Dieses sieht seit 1995 die Umsetzung der zivilen Aspekte des Dayton-Abkommens durch die Resolution 1031 des UN-Sicherheitsrats vor. In einer Aussendung der EU-Delegation in Sarajevo wurde nun angemerkt, dass der Hohe Repräsentant seine Befugnisse nur als letztes Mittel "gegen irreparable rechtswidrige Handlungen" einsetzen solle. "Die EU betont, dass eine umfassende internationale Aufsicht mit der europäischen Zukunft von Bosnien-Herzegowina unvereinbar ist, und erwartet von allen Beteiligten, dass sie in der kommenden Zeit verantwortungsbewusst handeln und Zurückhaltung zeigen", heißt es weiter. Dies ist als eine Aufforderung an Schmidt zu lesen, seine Befugnisse nicht so oft zu verwenden.

Der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina hat Christian Schmidt
Der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina Christian Schmidt hat die Umsetzung der zivilen Aspekte des Dayton-Abkommens zu überwachen.
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Manche Beobachter wie der Bosnien-Experte Bodo Weber vom Democratization Policy Council meinen, dass es der EU darum gehe, weiterhin ein Auge zuzudrücken, wenn es um die tatsächlichen Ansinnen der HDZ – nämlich die ethnoterritoriale Aufteilung des Staats – gehe. Tatsächlich hat die HDZ nun durch die Entscheidung von Schmidt ein Druckmittel verloren, weil sie dem Integritätspaket nur zustimmen wollte, wenn auch die eigenen Gesetzesvorschläge umgesetzt würden. Medienberichten zufolge gab es für diese HDZ-Wünsche auch schon "Deals" mit anderen Parteien.

Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch zahlreiche Unterstützer für Schmidts Gesetzesreform – allen voran jene politischen Kräfte im Land, die sich wünschen, dass Schwindeleien und Manipulationen bei Wahlen künftig nicht mehr so häufig auftreten, sowie die USA und die EU-Staaten Deutschland und Niederlande. Diese beiden Staaten waren auch kritisch, wenn es um die Unterstützung für den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen für Bosnien-Herzegowina ging, die vor allem die EU-Delegation in Sarajevo beförderte. Berlin und Den Haag verwiesen darauf, dass es wenig tatsächliche Reformfortschritte gäbe, stimmten aber letztlich doch zu.

Sinneswandel

Interessant ist vor allem der Sinneswandel der HDZ, die noch vor wenigen Monaten Schmidt bejubelte. HDZ-Chef Dragan Čović äußerte sich zuletzt abfällig über den Hohen Repräsentanten, obwohl Schmidt noch auf Wunsch der HDZ im Jahr 2022 eine hoch umstrittene Wahlreform durchgeführt hatte. Die HDZ hat in den vergangenen Jahren vor allem über ihre Schwesterpartei im Nachbarstaat Kroatien enormen Einfluss in vielen europäischen und internationalen Organisationen bekommen und für ihre Interessen erfolgreich lobbyiert.

Dies ging und geht jedoch immer wieder auf Kosten gesamtstaatlicher Interessen für Bosnien und Herzegowina. Einem nichtdiskriminierenden Staat für alle Bürgerinnen und Bürger – die Grundvoraussetzung für einen EU-Beitritt – tritt die HDZ vehement entgegen, weil sie in so einem zivilen Staatsgefüge nicht mehr so viel Vetomacht hätte. Dies bekam zuletzt auch der Bosnier Slaven Kovačević zu spüren, der ethnische Zuschreibungen ablehnt und für einen "europäischeren und gerechteren Staat" kämpft.

In einem bahnbrechenden Urteil entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vergangenen Sommer, dass Kovačević mit seiner Klage, dass er in Bosnien-Herzegowina aufgrund des bestehenden Wahlrechts diskriminiert werde, im Recht sei. Aber statt das Urteil für Kovačević sowie weitere fünf Urteile des EGMR zu bestehenden Diskriminierungen umzusetzen und die Verfassung zu "europäisieren", ging die Vorsitzende des bosnischen Ministerrats Borjana Krišto, eine HDZ-Politikerin, gegen das Kovačević-Urteil vor und schaffte es sogar, dass der EGMR das Urteil noch einmal in der Großen Kammer unter die Lupe nimmt.

Borjana Krišto, die Vorsitzende des bosnischen Ministerrats
Borjana Krišto, die Vorsitzende des bosnischen Ministerrats, schaffte es, dass der EGMR das eigene Urteil nochmal überprüft.
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DER STANDARD hat der Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejčinović Burić, ebenfalls eine ehemalige HDZ-Politikerin, zu der Causa Kovačević vielerlei Fragen gestellt. Der EGMR wurde schließlich von den Mitgliedsstaaten des Europarats geschaffen. Pejčinović Burić antwortete jedoch auf die allermeisten Fragen des STANDARD nicht.

Erst in einer Anfragebeantwortung des deutschen Grün-Politikers Max Lucks, der im deutschen Bundestag und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sitzt, schrieb Pejčinović Burić: "Als Generalsekretärin habe ich keine Rolle bei der Überwachung der Vollstreckung von Urteilen." Es bestehe auch keine Verbindung zwischen der Politischen Direktion des Europarats und dem handelnden Ministerkomitee, das die Umsetzung der Urteile überwacht. Der Leiter der Politischen Direktion des Europarats ist nämlich ebenfalls ein Kroate, Miroslav Papo.

Causa Kovačević

Lucks meint zu dem Vorgehen von Burić: "Es ist äußerst bedenklich, dass die Generalsekretärin dieser bedeutenden Institution, die sich für mehr Transparenz auf Regierungsebene und Pressefreiheit in ihren Mitgliedsstaaten einsetzt, auf Presseanfragen zunächst gar nicht, dann unzureichend und schließlich erst durch das Engagement eines Mitglieds verzögert reagiert, ohne auf alle Aspekte einzugehen. Das widerspricht den Standards, die sich der Europarat selbst gesetzt hat."

Das Urteil im Fall Kovačević stößt indes bei Rechtsexperten auf reges Interesse. Denn wenn es umgesetzt würde, müsste die Verfassung einer weitreichenden Änderung unterzogen wurden. Die jetzige Verfassung beruht auf dem Friedensvertrag von Dayton aus dem Jahr 1995, der den völkischen Nationalisten, die den Staat Bosnien-Herzegowina in den Kriegsjahren zuvor aufteilen und zerstören wollten, entgegenkam. Deshalb nutzt die jetzige Verfassung auch vor allem den Interessen dieser Nationalisten, die den Staat weiterhin untergraben und teils zerstören wollen.

Der Grazer Verfassungsexperte Joseph Marko schreibt in einem Beitrag für den "verfassungsblog.de", dass er hoffe, dass die Große Kammer des EGMR im Fall Kovačević "ein richtungsweisendes Urteil fällt, das die für die europäische Integration notwendigen Verfassungsreformen fordert". Im Fall Kovačević geht es darum, dass er als Wähler aufgrund der ethnoterritorialen Aufteilung des Landes nicht die Kandidaten wählen konnte, die er wählen wollte. In Bosnien-Herzegowina darf man nämlich in bestimmten Landesteilen nur bestimmte Leute, die sich zu drei Volksgruppen zählen, wählen. Alle anderen werden auch im passiven Wahlrecht diskriminiert.

Historische Vergleiche

Marko meint, dass die Argumente der Richterin, die gegen die Mehrheitsentscheidung stimmte, durch bestehende Urteile widerlegt seien. Er verweist dabei etwa auf das Urteil Mathieu-Mohin und Clerfayt gegen Belgien aus dem Jahr 1987 und das Urteil im Fall Aziz gegen Zypern von 2004. Markos Schlussfolgerung: Der EGMR hat im belgischen und zypriotischen Fall die gleichen Kriterien für die gerichtliche Überprüfung des aktiven Wahlrechts aufgestellt wie nun im bosnischen Fall. Im Fall Riza gegen Bulgarien aus dem Jahr 2016 und im Fall Bakirdzi und E.C. gegen Ungarn aus dem Jahre 2023 sei dies auch bestätigt worden. Damit sei auch jenseits von Bosnien-Herzegowina bereits eine EGMR-Rechtsprechung etabliert, wonach "jeder Bürger" diskriminierungsfrei Einfluss auf die Zusammensetzung der Gesetzgebung haben solle.

Marko verweist auch auf die grundsätzliche Problematik der Verfassung in Bosnien-Herzegowina, die den Nationalisten Vorteile verschafft. "Wie wissenschaftliche Studien zum Wahlsystem von Bosnien-Herzegowina belegen, besteht für multiethnische Parteien keine Chance, stärker als Splitterparteien zu werden, um das monoethnische Machtkartell aufzubrechen." Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich weder die EU noch der Hohe Repräsentant noch einzelne EU-Staaten effizient und glaubwürdig für die Umsetzung aller sechs Urteile des EGMR einsetzen, obwohl diese für eine Europäisierung des Staates notwendig ist und obwohl sie das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit enorm stärken würde. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 28.3.2024)