Sie kamen, um Gesicht zu zeigen, als Alexej Nawalny vor knapp vier Wochen beerdigt wurde. Tausende Trauernde, die vor der Kirche im Moskauer Bezirk Maryno ausharrten, die Blumen auf den vorbeifahrenden Leichenwagen warfen, die spontan einen Trauerzug bildeten und den Namen des toten russischen Oppositionsführers riefen. Sie demonstrierten nicht nur ihre Trauer, sondern auch ihre Unbeugsamkeit und ihre Gegnerschaft zum Gewaltregime Wladimir Putins. Dennoch blieb es eine ruhige Demonstration, die Polizei vermied gewaltsame Auseinandersetzungen, 128 Verhaftungen im ganzen Land wurden an jenem Tag gezählt – wenig für russische Verhältnisse.

Anhänger Alexej Nawalnys legen Blumen am Grab des verstorbenen Dissidenten nieder.
AP

Schon am Tag der Beerdigung vermuteten Beobachter, dass der russische Sicherheitsapparat früher oder später an den Türen der Menschen klopfen würde, die so ungewohnt friedlich demonstrieren konnten. Das Gesicht unverhüllt zu zeigen ist in Moskau besonders riskant. In den Tagen danach sollen 19 Menschen festgenommen worden sein, die durch die Überwachungssysteme der russischen Hauptstadt als Teilnehmer der Trauerkundgebung identifiziert wurden. Das schreibt die russische Nichtregierungsorganisation OVD-Info, die politische Repression in Russland dokumentiert.

Moskau, die "sichere Stadt"

"Der Kreml ist ein sehr rachsüchtiger Haufen", sagte Dan Storyev von OVD-Info. "Nach [Nawalnys] Beerdigung sind sie jetzt hinter den Leuten her und versuchen, ihre Gesichter auf Überwachungsaufnahmen zu finden", erklärte Storyev.

Über 227.000 Überwachungskameras gibt es in Moskau, auch am Borissowskoje-Friedhof, auf dem Nawalny beigesetzt wurde. Sie machen die Stadt zu einer der am besten überwachten der Welt. Auch in anderen russischen Städten gibt es ähnliche Systeme. Die Verwaltung der russischen Hauptstadt hat das System "Sichere Stadt" getauft und als Hilfsmittel zur Aufklärung von Verbrechen angepriesen. Heute scheint es vor allem ein Werkzeug für Massenüberwachung und die Unterdrückung Andersdenkender zu sein. Was bisher unbekannt war: Dabei half offenbar auch eine Firma aus der EU.

Der russische Präsident Wladimir Putin während einer Besprechung mit Sicherheitsbeamten nach dem Terroranschlag in Moskau.
IMAGO/Mikhail Metzel

Die Software zur Gesichtserkennung, die von den Behörden zur Auswertung der Kamerabilder genutzt wird, stammt von russischen Firmen wie Ntechlab, die seit Juli 2023 von der EU sanktioniert ist. Ntechlab aber trainierte seine Gesichtserkennung offenbar auch nach der Sanktionierung noch mithilfe einer Firma namens Toloka, die in den Niederlanden sitzt. Das zeigt eine internationale Recherche von STANDARD und den Rechercheorganisationen The Bureau of Investigative Journalism (TBIJ) und Follow the Money.

Clickworker trainieren Software

Toloka betreibt eine Plattform, auf der sogenannte Clickworker aus aller Welt im Gegenzug für Cent-Beträge einfachste Aufgaben erfüllen müssen, beispielsweise Bilder von ihren Gesichtern aus unterschiedlichen Positionen hochladen. Die Bilder dienen Ntechlab gewissermaßen als Testmaterial, um die Gesichtserkennung noch zuverlässiger zu machen. So hilft eine Firma aus der EU einer sanktionierten Firma in Russland, die für die russischen Behörden Gesichter von Oppositionellen herausfiltert. EU-Diplomaten, die namentlich nicht genannt werden wollten, schätzen das als Sanktionsbruch ein.

Rechtsexperten sagen, dass es sich auch um eine legale Lücke im Sanktionsregime handeln könnte. Toloka teilte auf Anfrage mit: "Keines der EU- oder US-Unternehmen von Toloka hat jemals Dienstleistungen für Ntechlab [...] erbracht" und auch keine Zahlungen von der Firma erhalten. Das Gleiche gelte für die Schweizer Firma. Ntechlab habe einen Vertrag mit einer russischen Firma namens Toloka RU LLC gehabt. Was Toloka verschweigt: Auch diese russische Firma gehörte zum fraglichen Zeitpunkt einer niederländischen Firma. Ntechlab ließ Fragen unbeantwortet.

Eine Überwachungskamera in Moskau.
REUTERS/MAXIM SHEMETOV

Die Gesichtserkennungssysteme bedrohen nicht nur in der russischen Hauptstadt bürgerliche Freiheiten. Geleakte Dokumente aus der russischen Präsidialverwaltung zeigen, dass ein nationales System von Überwachungskameras längst in Arbeit ist. Die Dokumente sind Teil der "Kreml-Leaks", die dem estnischen Medium "Delfi" zugespielt und vom "Spiegel" und internationalen Partnermedien ausgewertet wurden. Demnach sollen für ein "Videostream-Verarbeitungszentrum" sowie einen entsprechenden Service allein für das Jahr 2024 mehr als 48 Millionen Euro zur Verfügung stehen, finanziert vom Ministerium für digitale Entwicklung und dem Büro des Präsidenten. Umsetzen soll die Pläne eine russischen Behörde namens GlavNIVTs, die direkt dem Präsidenten unterstellt ist und unter anderem Desinformations-Netzwerke betreibt.

"Illoyales Verhalten"

Aufgabe des neuen Systems soll es sein, Videomaterial aus ganz Russland zu sammeln, zu speichern und nach "Objekten von Interesse" zu durchsuchen, auch mithilfe künstlicher Intelligenz. Das Ziel: "Bedrohungen" und "destruktives und/oder illoyales Verhalten" sofort zu erkennen. Ein solches System hatte auch der Minister für digitale Entwicklung Medienberichten zufolge im vergangenen Herbst angeregt. Ihm zufolge sind in Russland derzeit mehr als eine Millionen Überwachungskameras installiert, jede dritte soll an eine Gesichtserkennungssoftware angeschlossen sein.

Seit September 2020 beispielsweise funktioniert die Zugangskontrolle zu den Moskauer U-Bahn-Stationen mit Gesichtserkennung. Die Systeme sind zudem offenbar mit Polizeidatenbanken verbunden, sodass gesuchte Personen identifiziert werden können, wenn sie die Station betreten. So wurde der ehemaligen Moskauer Lokalpolitiker, Wladimir Salischak, in der U-Bahn verhaftet. Er war bei Anti-Putin-Protesten im Frühjahr 2021 dabei gewesen, wenn auch eher als Beobachter, sagt er.

Der Zutritt in die Moskauer Metro funktioniert über Gesichtserkennung.
AFP/VERA SAVINA

Die Polizei habe ihm mitgeteilt, dass er "vom System erkannt" worden sei, sagte er dem STANDARD. In den Gerichtsakten sah er später Fotos von sich, die während der Proteste gemacht worden waren. Gerichtsdokumente, die dem STANDARD vorliegen, führen die Erkennung durch das Videoüberwachungssystem PARSIV-ECHD als Beweis gegen ihn an. ECHD ist Berichten Zufolge das System, in dem alle Aufnahmen von städtischen Überwachungskameras in Moskau gespeichert werden. Beide Systeme werden auch in einer öffentlichen Ausschreibung erwähnt. Demnach ist PARSIV-ECHD an die Software Findface angebunden, die die eigentliche Gesichtserkennung leistet – eine Software, die Ntechlab entwickelt und veröffentlicht hat.

Möglicher Sanktionsbruch

Die EU sanktionierte Ntechlab im Juli 2023. Die Firma sei "verantwortlich für die Bereitstellung technischer oder materieller Unterstützung für schwere Menschenrechtsverletzungen in Russland" und führte "willkürliche Verhaftungen oder Inhaftierungen und Verletzungen oder Missbräuche der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit" als Begründung an. Die Moskauer Stadtverwaltung (DIT) und Ntechlab ließen Fragen unbeantwortet.

"Wenn diese Unternehmen sanktioniert werden, dann ist es verboten, ihnen Ressourcen zur Verfügung zu stellen", sagt ein EU-Diplomat. Aber genau das hat offenbar die Plattform Toloka getan. Im September, also anderthalb Monate nach Inkrafttreten der Sanktionen gegen Ntechlab, postet ein Toloka-Nutzer auf Youtube ein Video, wie er eine Aufgabe auf der Plattform ausführt. Die Aufgabe lautet "Lade fünf Bilder von Dir hoch", als Lohn winken 50 Cent, auf dem Video sieht man auch den Auftraggeber, der Toloka dafür nutzt: Ntechlab. Der STANDARD und seine Recherchepartner fanden mehrere solcher Videos und Fotos, die Tolokas Dienste für Ntechlab und eine weitere sanktionierte Firma, Tevian, dokumentieren.

Legale Schlupflöcher

Toloka ist in den Niederlanden registriert und eine Tochtergesellschaft von Yandex. Außerdem existiert eine Toloka-Firma in der Schweiz, die ebenfalls zu Yandex gehört. Ntechlab ist bisher dort nicht sanktioniert. Mehrere Sanktionsexperten, die namentlich nicht genannt werden wollen, sagen, dass Geschäfte zwischen der Schweizer Tochterfirma von Yandex und Ntechlab möglicherweise ein legales Schlupfloch sein könnten, um EU-Sanktionen zu umgehen. Das zuständige Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft teilte mit, dass der Bundesrat beschlossen habe, "die von der EU im Rahmen der Sanktionsregelung im Bereich der Menschenrechte im Zusammenhang mit den Fällen Nawalny und Kara-Murza verhängten Maßnahmen nicht zu übernehmen, darunter Tevian und Ntechlab."

Das Hauptquartier von Yandex in Moskau.
REUTERS

Yandex gilt als russisches Pendant zu Google, ist aber in den Niederlanden registriert und gehört in Teilen westlichen Investoren. Im Februar kam es zu einem Abspaltungsdeal mit einem Volumen von mehr als fünf Milliarden Dollar, nachdem Yandex sein russisches Hauptgeschäft an russische Investoren verkauft hatte. Toloka bleibt Teil der niederländischen Gesellschaft von Yandex. Yandex Russland bestätigte dies auf Anfrage und verwies auf die neue Plattform Yandex Tasks, die Toloka für russische Kunden ersetzen soll.

Der Lokalpolitiker Wladimir Salischak wurde auf Basis der Gesichtserkennung zu 15 Tagen Arrest verurteilt, wegen "Verstoßes gegen die Regeln der Durchführung von Massenveranstaltungen". Seit diesem Zeitpunkt hatte er immer eine medizinische Maske dabei und eine Mütze mit großem Schild. "Ich zog sie mir tief in die Augen", erzählt er, zum Schutz vor den Kameras, "ich senkte immer mein Gesicht, damit die Kamera nur meine Cap sieht. Ja, mein Auftreten veränderte sich." Später verließ er das Land, er lebt heute in Deutschland. (Niamh McIntyre, Hannes Munzinger, Carina Huppertz; Mitarbeit: Denis Dmitriev ("Meduza"), Leonie Kijewski (FTM), Lukas Kotkamp (FTM), Mattias Carlsson ("Expressen"), 27.3.2024)