Die Wiener Festwochen sind noch nicht einmal wirklich gestartet, und Neo-Intendant Milo Rau steckt schon mittendrin im Diskursdschungel. "Antisemitin als Star bei den Festwochen", titelte diese Woche das Boulevardmedium Österreich. Gemeint war die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, die von Milo Rau als Mitglied eines "Rats der Republik", eine Art fiktives Parlament, ausgewählt wurde. Im Rat vertreten sein wird auch der griechische Ökonom Yanis Varoufakis. Beide sind wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber Israel umstritten, als antisemitisch schätzen die meisten Beobachter sie aber nicht ein. Anders die Wiener ÖVP-Politikerin Laura Sachslehner, die Milo Raus Einladungspolitik zum Anlass nahm, um die generelle Ausrichtung der Festwochen und deren Finanzierung infrage zu stellen. Im STANDARD erklärt Rau seine Haltung zu der Frage.

Der Wiener-Festwochen-Chef Milo Rau beklagt Verschiebungen in unserer Debattenkultur: Die Rechte missbrauche zunehmend den Antisemitismus-Begriff, die Linke den Rassismus-Vorwurf.
Der Wiener-Festwochen-Chef Milo Rau beklagt Verschiebungen in unserer Debattenkultur: Die Rechte missbrauche zunehmend den Antisemitismus-Begriff, die Linke den Rassismusvorwurf.
APA/GEORG HOCHMUTH

STANDARD: Gibt es bei Ihren Festwochen Platz für Antisemitismus?

Rau: Nein. Das Annie Ernaux zu unterstellen, ist inkorrekt. Sie spricht sich gegen Präsident Emmanuel Macrons Sozialpolitik aus, gegen die Unterdrückung der Frauen im Iran, gegen den Angriffskrieg Russlands und ja, auch gegen Aspekte der Politik der Regierung Israels. Das macht sie weder zur Islamhasserin, noch zur Russophobin, noch zur Antisemitin. Ganz im Gegenteil: Ernaux hat sich ihr Leben lang gegen strukturelle Gewalt ausgesprochen. Ich finde es äußerst bedenklich, dass der Begriff des Antisemitismus aktuell derart unvorsichtig benutzt, ja instrumentalisiert wird.

STANDARD: Annie Ernaux unterstützt aber auch die Israel-Boykott-Bewegung BDS. Einige BDS-Mitglieder sprechen Israel das Existenzrecht ab, die Parlamente Deutschlands und Österreichs haben die Bewegung als antisemitisch eingestuft. Wie stehen Sie dazu?

Rau: Ernaux ist nicht Mitglied von BDS. Aber es stimmt, Ernaux hat einige Petitionen unterschrieben, die auch von BDS-Mitgliedern unterschrieben wurden. Man muss dazusagen, dass Ernaux Französin ist. Dort hat BDS in der Israel-Palästina-Debatte die Diskurshoheit, so ähnlich, wie in Deutschland und Österreich eher die politische Rechte das Thema an sich gezogen hat. Beide Instrumentalisierungen finde ich extrem bedenklich. In Frankreich und Belgien behängen Bürgermeister ihre Parlamente mit Palästina-Flaggen, jeder zweite Künstler ist dort bei BDS. Als Intendant in Belgien wurden viele meiner Kollaborationen mit israelischen Institutionen vom BDS zerstört. Genereller Boykott ist genauso schädlich wie generelles Kritikverbot.

STANDARD: In Ihrem "Rat der Republik" sitzt auch Yanis Varoufakis. Er hat eine Petition für den Ausschluss Israels von der Venedig-Biennale unterschrieben. Im Petitionstext wird Israel "Völkermord" vorgeworfen, der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober wird hingegen völlig verschwiegen. Was sagen Sie dazu?

Rau: Im "Rat der Republik" sollen 69 Mitglieder aus Wien sitzen, die aus allen politischen Lagern kommen, auch von der FPÖ. Und 30 internationale Leute, die wir für eine jeweilige spezielle Expertise anfragen. Voraussetzung ist, dass sie sich auf dem Boden der Verfassung und der Menschenrechte bewegen. Denn natürlich gibt es rote Linien – und Antisemitismus gehört natürlich in allererster Instanz dazu. Ansonsten gilt aber das Prinzip des Pluralismus: Ich oder das Team der Festwochen sind mit keinem der Mitglieder des Rats in allen Punkten einverstanden. Und so bin ich etwa mit Varoufakis in der Frage dieser Petition nicht einverstanden. Auch ich wurde gefragt, ob ich sie unterschreiben möchte, und ich habe das abgelehnt. Aber ist es illegal oder antisemitisch, sie zu unterschreiben? Nein. Das Prinzip der Demokratie und Meinungsfreiheit muss bestehen bleiben. Sonst können wir gar nicht mehr miteinander diskutieren.

STANDARD: Warum haben Sie Ernaux und Varoufakis denn eingeladen, wenn absehbar war, dass deren Haltung zu Israel für Irritation sorgen könnte?

Rau: Ich schätze Ernaux schon sehr lange als Verfasserin von Klassenliteratur und für ihr soziales und feministisches Engagement. Bei Varoufakis finde ich sein Engagement für ein sozial gerechteres Europa großartig, sein basisdemokratisches Know-how. Für diese Expertise sind sie angefragt. Ein Podium für ihre Israelkritik bekommen sie nicht – warum auch? Sie werden übrigens auch nicht persönlich in Wien anwesend sein. Der Austausch ist intellektueller Art.

STANDARD: Diese Ambivalenzen machen es rechten und konservativen Politikern aber leicht, im Verbund mit Boulevardmedien Stimmung gegen Ihr Festival zu machen. Stört Sie das? Oder wollen Sie das sogar?

Rau: Ich empfinde diese Debatte nicht als störend, sondern als nötig. Die Frage nach jüdischem Leben in Europa, nach europäischer Erinnerungskultur, nach der Last der Vergangenheit, nach Holocaust und Kolonialismus durchzieht unser Festivalprogramm. Diese Fragen drohen die EU aktuell zu zerreißen, wie unser Gast am 7. Mai, der deutsch-jüdische Philosoph Omri Boehm, sagt. Frankreich und Belgien definieren sich über die äußerst brutale koloniale Vergangenheit, Deutschland und Österreich über ihre Verantwortung für das Menschheitsverbrechen des Holocaust. Als Festival wollen wir ein Ort sein, an dem diese unterschiedlichen historischen Verantwortungen kritisch, aber eben auch konstruktiv in Austausch treten. Wenn nun, wie im jetzigen Fall, eine rechte Politikerin daherkommt und sagt, Annie Ernaux sei Antisemitin, nur um einen lokalen Diskursgewinn zu machen, dann ist das wenig hilfreich. Dadurch wird der Begriff selbst entwertet. Die Linke dagegen, leider muss man das ebenfalls zugeben, instrumentalisiert oft den Rassismus-Begriff und die koloniale Vergangenheit für tagespolitische Debatten. Und deshalb haben wir genau zu diesem Thema Omri Boehm eingeladen. Er will danach fragen, wie wir aus dieser Sackgasse wieder herauskommen.

STANDARD: Sie provozieren diese Debatten durch Ihre Festivalprogrammierung also auch selbst.

Rau: Ja. Wir veranstalten sogar einen ganzen Prozess über den sogenannten linken Antisemitismus – aber eben auch über die Aneignung des Holocaust von rechts. Wie kann es sein, dass bekennende Rechtsradikale wie Heinz-Christian Strache oder Viktor Orbán offiziell in Yad Vashem empfangen werden? Warum ist die europäische Linke traditionell auf der Seite Palästinas? Wie stehen wir als Festival dazu? Was ist unser Meinungskorridor? Wie benutzen wir Wörter, woran erinnern wir – und woran nicht? Das sind die Themen dieses Festivals. Elfriede Jelinek und Kornél Mundruczó erzählen epische jüdisch-europäische Familiengeschichten, denken über Antisemitismus heute nach. Ohne die jetzt beginnenden Debatten würde unser Programm überhaupt keinen Sinn machen.

STANDARD: Es gab ja auch bereits den Aufreger rund um den Dirigenten Teodor Currentzis, der sich bekanntlich nie klar von Putin distanziert hat. Er hätte bei den Festwochen parallel zur ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv auftreten sollen. Lyniv wollte das aber nicht, also wurde Currentzis wieder ausgeladen. Was ist da passiert?

Rau: Wir waren uns alle einig, dass diese beiden Konzerte so wie angekündigt veranstaltet werden sollen, und haben die Ankündigungstexte detailliert zusammen ausgearbeitet. Allerdings wurde dann auf Lyniv und ihr Orchester, das ukrainische Staatsorchester, nach der Ankündigung Druck ausgeübt. Currentzis auszutauschen war unmöglich. Und so haben wir uns dann für eine Seite entscheiden müssen.

STANDARD: Eine klare Absage an Putin fordern Sie von Currentzis nicht?

Rau: Nein, obwohl ich natürlich die Hoffnung hatte, dass genau diese Konstellation ein Kontext für eine klarere Aussage, immerhin eine Debatte gewesen wäre. Wie bei der Antisemitismusfrage gilt: Hätte sich Currentzis jemals positiv über Putin oder den Krieg geäußert, dann hätte er natürlich von uns keine Einladung bekommen. Wir haben auch eine ganze Reihe zu 150 Jahren Karl Kraus im Programm. Gegen den Wiener Säulenheiligen Kraus gibt es aus heutiger Sicht viele Einwände, die wir ansprechen wollen, bekanntlich auch Antisemitismus. Wir wollen aber bei den Festwochen nicht canceln, sondern den Widersprüchen unserer und anderer Zeitalter kritisch und konstruktiv gegenübertreten. (Stefan Weiss, 22.3.2024)