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Didier Eribon bezeichnet sich als "Klassenflüchtling", der seine Wurzeln in der nordfranzösischen Arbeiterschaft dennoch keineswegs verleugnet: "Eine Arbeiterin" enthält den zutiefst berührenden Bericht über den Tod seiner Mutter.
Pascal Ito / Flammarion /Suhrkamp Verlag

Der Satz, der das Schicksal der eigenen Mutter besiegelt, fällt frühzeitig in Didier Eribons neuem Buch. Er enthält das Credo eines verantwortungsbewussten Sohnes. Er lautet: "Aber so konnte es nicht weitergehen." Eribons Mutter, eine betagte Frau aus dem Arbeitermilieu, war nicht länger imstande, ihren Haushalt allein zu führen.

Die mütterliche Wohnung war zur unbetretbaren Festung geworden. Eribon schildert die Schlüsselszene aufreizend nüchtern. Der Sohn steht vor der verriegelten Tür, ruft hinein: "Alles in Ordnung?" Die Antwort der Greisin ist eine mehrmalige Bitte um Aufschub: "Noch fünf Minuten!" Irgendwann erscheint die Feuerwehr, steigt über den Balkon ein. Die Mutter liegt hilflos und splitternackt hinter der Tür. Eribon schreibt, wie er unangenehm berührt den Blick von der Hingefallenen abwendet.

Das Schauspiel wiederholt sich. Irgendwann stellen die Floriansjünger in dem Vorort von Reims geschmalzene Rechnungen. Für "Aufstehhilfe nach Sturz" gibt es bei der nordfranzösischen Feuerwehr einen festen Tarif. "Aber so konnte es nicht weitergehen." Hinter dieser Formel verbirgt sich tiefes, von Ratlosigkeit geprägtes Unbehagen. Eribon versteht es, beredt wie kein Zweiter über die Deklassierung der werktätigen Bevölkerung zu erzählen. Sein autobiografischer Bericht Eine Arbeiterin nimmt sich denn auch wie ein weiteres Postskriptum zur Mentalitätsstudie Rückkehr nach Reims (2016) aus.

Bewusstseinswandel

Letztere enthielt die ungemein kenntnisreiche Verzeichnung eines tiefgreifenden Bewusstseinswandels: die allmähliche Mutation der einst so stolzen, unnachgiebigen Industriearbeiterschaft in ein Heer von Übergangenen. Doch an der unsichtbaren Trennscheibe, die die Alten, Hinfälligen von uns (etwas) Jüngeren trennt, drückt sich Gelehrtenweisheit die Nase platt. Der Aufenthalt im Altersheim steht am Ende jedes Erwerbslebens. Er beschließt auch die Existenz von Eribons verwitweter Mutter: einer Ex-Proletarierin, die hoch in den Achtzigern steht, Marine Le Pen wählt und sich eine spröde Widersetzlichkeit bewahrt hat.

Die Fürsorge ihrer Söhne – Eribon hat drei Brüder – vermag nichts am Dilemma zu ändern. Altenheime sind – zumal in Frankreich, wo man alle Formen der Daseinsvorsorge kaputtgespart hat – "Einöden der Einsamkeit" (Norbert Elias). Das Fehlen von Pflegepersonal vernichtet alle Vitalität. Individuen, die nicht mehr frei über ihren Bewegungsapparat verfügen, werden systematisch ruhiggestellt. Wem nur noch einmal in der Woche aus dem Bett herausgeholfen wird, der leistet irgendwann auch auf letzte Mobilitätsreserven Verzicht.

Erzählfäden

Eribon beschreibt nicht nur den Untergang seiner Mutter – sie überlebt gerade einmal die ersten sieben Wochen im Asyl: die im Nu vollzogene Anonymisierung, das Aussetzen jeglicher Sozialisation. Wie an der elastischen Schnur seines Erzählfadens zieht er die Mutter an sich heran – und stößt sie, ohne ihr die schuldige Liebe vorzuenthalten, wieder von sich ab. Gewissenhaft verzeichnet Eribon auch die Stationen der eigenen Sozialisation: die eines "Klassenwechslers", der sein Schwulsein wider die überkommene Borniertheit verteidigen muss – und darüber hinaus lernt, in Marx-und-Engels-Zungen zu sprechen.

Der angehende Sozialwissenschafter verlässt Reims in Richtung Paris. Er wird die maßgebliche Biografie über Foucault schreiben und mit Pierre Bourdieu befreundet sein. Sein "Habitus"-Wechsel erinnert an die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität. Die vorsichtige Wiederannäherung an die Mutterwelt offenbart die Notwendigkeit, Klassendifferenzen zu bestimmen – und sich dennoch niemals über Mamas Groschenromane zu mokieren.

So ist Eribon der Soziologe im Aufgebot der autofiktionalen Literatur. Sein schweifendes Erinnern besitzt Ähnlichkeiten mit Michel de Montaigne. Seine Methode gleicht der geduldigen Zerlegung aller Begriffe, hinter denen sich Denkfaulheit versteckt, die Einübung in Klischees.

Seinem flammenden Plädoyer für eine Mündigkeit der Alten – die gleichwohl jemandes bedürfen, der für sie spricht – kommt umso mehr Bedeutung zu, als Millionen von "Boomern" jedweden Geschlechts demnächst in den Spätherbst ihres Lebens eintreten werden. Eribon zitiert zustimmend einen Satz von Malraux: "Die Tragödie des Todes ist, dass er das Leben in Schicksal verwandelt." Mit dem Zurückweichen des Lebens verengt sich jeder Spielraum für selbstgewählte Tätigkeiten. Eribon selbst wird heuer 71 Jahre alt. (Ronald Pohl, 19.3.2024)