Die seit 30 Jahren in diesem Feld tätige palästinensische Friedensverhandlerin Hiba Husseini sieht den Gazakrieg auch als Chance für eine echte Konfliktlösung zwischen Palästinensern und Israel. Ihr schwebt eine Wirtschaftsgemeinschaft zwischen Israel und Palästina vor – nach Vorbild der EU.

STANDARD: Lange Zeit hat in der Welt kaum jemand über die Palästinenser gesprochen. Seit Beginn des Gazakriegs sind sie plötzlich wieder Thema. Ist das für die konstruktiven Kräfte in Palästina eine gute Nachricht?

Husseini: Ja, es wurde weltweit zu einem Thema. Und da sprechen wir nicht nur von Regierungen, sondern auch von der Zivilgesellschaft, mit den vielen Demonstrationen in großen Städten weltweit, die eine Waffenpause in Gaza und eine Freilassung der Geiseln fordern. Wir hören da auch immer öfter die Forderung, diesen Konflikt endlich zu einer Lösung zu bringen, zu einer Zweistaatenlösung – im Gegensatz zum Trend eines bloßen Konfliktmanagements der vergangenen zwanzig Jahre.

Pro-Palästina-Demo in Chile
Weltweit wird für Frieden demonstriert – dabei ergreifen viele Menschen die Position der Palästinenser (Foto: Santiago de Chile).
IMAGO/Matias Basualdo

STANDARD: Sind wir einer solchen Lösung heute näher – oder sind wir sogar weiter davon entfernt denn je?

Husseini: Wir müssen zwischen der Hamas und dem Konflikt unterscheiden. Natürlich heftet sich die Hamas das auf die Fahnen. Aber ich glaube, hätte die Attacke in Isolation stattgefunden und Israel nicht mit dieser Macht reagiert, dann wäre auch die globale Reaktion eine andere – die Frage wäre nicht von so großer Priorität. Sind wir einer Lösung heute näher? Dem Gespräch über eine ernsthafte Konfliktlösung sind wir ein Stück näher. Wie und wann – das ist eine andere Frage. Wird die Hamas geschwächt daraus hervorgehen? Ich glaube, ja: Sie wird nicht in der Lage sein, Gaza weiter zu kontrollieren.

STANDARD: Im Westjordanland könnte das Gegenteil passieren: eine Stärkung der Hamas.

Husseini: Wir sehen seit den 1980ern, dass die Stärke der Hamas zunimmt und wieder abebbt. Sie ist populär, wenn sie das Thema Al-Aksa und Jerusalem aufbringt und Raketen auf Israel abfeuert – aber dann nimmt der Rückhalt wieder ab. Die Palästinenser im Westjordanland sind mit beiden unzufrieden: mit der aktuellen Regierung und mit einer potenziellen Hamas-Herrschaft. Was alle wollen, ist eines: das Ende der Besatzung.

STANDARD: Zugleich gibt es derzeit keine palästinensische Führung, der man das zutraut.

Husseini: Korrekt. Das ist unser Problem, wir sind politisch schwach und gespalten, damit schaden wir uns selbst. Wir haben der Netanjahu-Regierung in die Hände gespielt. Gaza war unter Hamas-Kontrolle, mit tatkräftiger Unterstützung durch Netanjahu, und die Palästinenserbehörde in Ramallah wurde immer mehr geschwächt. Für Netanjahus Israel war das sehr bequem. Er hat die Normalisierung mit arabischen Staaten eingeleitet, und die Wirtschaft hat geblüht. Israel hatte eine ausgezeichnete Entwicklung, während wir immer weiter abgesackt sind.

STANDARD: Wenn Netanjahus Ära zu Ende ist, halten Sie dann eine Wende für möglich?

Husseini: Das ist eine schwierige Frage. Wir wissen, dass diese Regierung ein Ablaufdatum hat. Aber Israel ist immer weiter nach rechts gerückt. Es ist allseits bekannt, dass das Friedenslager verschwindend klein ist. Wenn der Krieg vorbei ist, muss Israel seinen Platz im Nahen Osten analysieren. Es hat seine Stärke auf einer Defensivstrategie begründet. Man hat es nicht geschafft, den eigenen Leuten jene Sicherheit zu bieten, die sie brauchen, weil man auf Defensive gesetzt hat und nicht auf Frieden.

Hiba Husseini:
Hiba Husseini: "Wir brauchencharismatische Figuren an der Spitze und einen Sinneswandel."
privat

STANDARD: Nach dem 7. Oktober könnte man aber argumentieren, dass Israel nicht zu stark auf Defensive gesetzt hat, sondern sogar zu wenig.

Husseini: Ich sage nicht, dass es keine Defensive braucht. Im Fokus auf die Defensivstrategie hat man aber alles andere vernachlässigt. Wenn Israel sicher und stabil sein will, muss es sich fragen, wie es mit den Palästinensern verfahren will. Wir sind nun einmal hier, wir gehen hier nicht weg. Und wir werden immer mehr. Also brauchen wir ein Arrangement. Ich bin optimistisch, dass es irgendwann passieren wird, aber dafür brauchen wir charismatische Figuren an der Spitze und einen Sinneswandel.

STANDARD: Nicht wenige der israelischen Opfer am 7. Oktober waren Teil des Friedenslagers. Befürchten Sie, dass der Hamas-Überfall hier Potenzial für Friedensbildung zerstört hat?

Husseini: Das ist traurig, ja. Sobald wir alle aus der Asche dieses Horrors aufgestiegen sind, hoffe ich, dass sich noch mehr Menschen für Frieden aussprechen werden, für ein Ende des Leidens auch auf israelischer Seite. Die Ängste, die Unsicherheit auf israelischer Seite sind real. Der Schmerz und das Leiden der Palästinenser ebenso. Wir können nicht mit einem kontinuierlichen Trauma leben.

STANDARD: Sie haben mit dem früheren israelischen Minister und Friedensverhandler Yossi Beilin ein Modell entwickelt, das sogar über die Zweistaatenlösung hinausgeht: ein Bündnis der Staaten Israel und Palästina, die "Konföderation des Heiligen Landes". Ist das realistisch oder reine Utopie?

Husseini: Wir haben eine simple Annahme: Weder die Israelis noch die Palästinenser wollen gemeinsam in einem Staat leben. Israel ist ein Staat, wir sind es nicht. Damit Israel seine Unabhängigkeit wirklich voll ausschöpfen kann, braucht es einen Nachbarn, der ebenfalls unabhängig ist und ähnliche Rechte genießt.

STANDARD: Sie sprechen davon, dass sich später auch andere Staaten, etwa Jordanien, der Konföderation anschließen könnten. Hatten Sie die EU als Vorbild?

Husseini: Wenn es gelingt, echten Frieden zu schaffen, können sich andere anschließen. Man hat dann souveräne Staaten, alle haben ihre eigene Identität, die niemand infrage stellt. Und man öffnet die Grenzen füreinander, um die Potenziale wirtschaftlicher Entwicklung auch wirklich ausschöpfen zu können. Ob es utopisch ist? Auch das vereinte Europa ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, weil man realisiert hat, dass man nach dieser Massenvernichtung in das Zusammenleben investieren muss. Es hat zwar lange gedauert, bis die EU ihre Grenzen füreinander geöffnet und den Menschen volle Freizügigkeit gewährt hat – aber auch die EU ist nicht Utopia.

STANDARD: Was soll mit den vielen israelischen Siedlungen im Westjordanland geschehen?

Husseini: Wir werden Land tauschen: Manche Siedlungen werden an Israel annektiert, dafür werden bestimmte israelische Gebiete an Palästina abgetreten. Es wird aber immer noch Siedlungen geben, die nicht Teil dieses Tausches sind, sie gehören dann zu Palästina. Und die Siedler, die nicht von dort wegziehen wollen, haben dann das Recht, zu bleiben, wo sie sind. Eine gleiche Zahl von Palästinensern bekommt Bleiberecht in Israel. Wir schätzen, dass es sich dabei um rund 150.000 Personen handeln wird.

STANDARD: Welche Reaktion auf Ihr Modell erhalten Sie in den USA?

Husseini: Wir wurden extrem positiv aufgenommen, als wir es vor zwei Jahren präsentierten. Das Weiße Haus hat uns mit großem Interesse empfangen, das Außenministerium, Kongressmitglieder und Thinktanks. Dann brach der Ukrainekrieg aus, der hat uns zurückgeworfen. Aber jetzt starten wir eine zweite Runde – weil der Gazakrieg Räume für neue Debatten eröffnet hat. Alle sprechen jetzt über den Tag danach. Und wenn man wissen will, wie man die Zweistaatenlösung verwirklichen kann, braucht man einen Plan. (Maria Sterkl, 18.3.2024)