Essensverteilung in Rafah im Gazastreifen. 
In Rafah drängen sich die Menschen, um etwas von dem wenigen Essen und Trinkwasser abzubekommen, das zur Verfügung steht.
EPA/HAITHAM IMAD

Dort, wo einst knapp 300.000 Menschen lebten, sind es nun bis zu 1,5 Millionen Menschen. Viele in Gaza sind vor dem Krieg nach Rafah geflüchtet, die Stadt im Süden direkt an der Grenze zu Ägypten. Weitere Zufluchtsorte gibt es nicht mehr, aus dem Küstenstreifen werden sie nicht herausgelassen. Israel lässt Hilfsgüter über den Landweg nur begrenzt zu, außerdem droht es regelmäßig mit einer Offensive auf Rafah. In dieser dramatischen Situation hat Lisa Macheiner einen Monat in Rafah gearbeitet. Für Ärzte ohne Grenzen (MSF) koordinierte die 34-jährige Österreicherin ein medizinisches Hilfsprojekt. Nach einer Woche in der Heimat ist sie am Samstag zu einem weiteren Einsatz nach Rafah zurückgereist. Kurz davor hat sie im STANDARD-Interview über ihre ersten Erfahrungen in Gaza gesprochen.

STANDARD: Sie waren einen Monat lang in Rafah im Gazastreifen, wo bis zu 1,5 Millionen Menschen auf engstem Raum leben. Wie kann man sich das vorstellen?

Macheiner: Mir fehlen da oft die Worte. Jetzt, hier in Österreich, fühlt sich alles so leer an. Dort waren, wo immer man sich hingewandt hat, Menschenmassen zu sehen. Es entsteht wahnsinnig viel Stau, man kommt kaum voran. Ob das jetzt nur Menschen sind, die gehen, Eselskarren oder Autos – es ist alles so dicht zusammengedrängt, und die Menschen versuchen überall, eigene Notunterkünfte aufzustellen. Es ist ein einziges riesiges Camp.

STANDARD: Wie genau haben Sie dort geholfen?

Macheiner: Wir betreiben dort ein Feldspital mit 80 Betten, mit stationärer und ambulanter Abteilung. Wir versorgen dort viele Menschen mit Traumaverletzungen, die im Krieg etwa durch Explosionen verwundet wurden. Menschen mit Amputationen, mit großflächigen Verbrennungen. Wir machen auch Physiotherapie, damit die Patienten wieder mobil werden. Wir kümmern uns um Kinder, die ihre Familien verloren haben. Aber das ist natürlich bei weitem nicht ausreichend.

STANDARD: Mit welchen Herausforderungen hatten Sie bei Ihrer Arbeit zu kämpfen?

Macheiner: Die Unsicherheit ist sehr prägend. Wir haben seit Oktober mehrfach unsere medizinischen Infrastrukturen evakuieren müssen. Das erzeugt ganz viel Stress, wenn man sich denkt: Passiert es wieder? Was machen wir dann mit den Patienten und Patientinnen? Wo sollen wir überhaupt noch neu anfangen? Man kommt ja in Gaza kaum noch irgendwohin.

STANDARD: Wie ist es mit der Versorgung mit Hilfsgütern?

Macheiner: Auch da gibt es die permanente Sorge, dass irgendwas ausgeht. Hilfsgüter kommen ja nur tröpfchenweise nach Gaza. Wenn gewisse Dinge nicht mehr zur Verfügung stehen, ist man dann überhaupt noch richtig einsatzfähig? Man tauscht sich dann mit anderen Hilfsorganisationen aus und schaut, wie man einander helfen kann. Zum Beispiel sind uns die großen Wundauflagen ausgegangen. Andere medizinische Akteure haben uns geholfen, die wiederum gewisse Medikamente nicht mehr hatten.

Lisa Macheiner war einen Monat lang als humanitäre Helferin in Rafah tätig.
Lisa Macheiner war einen Monat lang für MSF als humanitäre Helferin in Rafah tätig.
Ärzte ohne Grenzen

STANDARD: Die Helferinnen und Helfer helfen also einander?

Macheiner: Ich mache die humanitäre Hilfe jetzt seit sieben Jahren und war überrascht, dass in Gaza wirklich alle verstanden haben, dass es allein nicht geht, dass man das nur gemeinsam schafft. Wir leben ja alle mittendrin, wir kriegen alles mit. Wir hören in der Nacht die Menschen auf den Straßen reden, auch in dem Haus, in dem wir leben. Da will ein Kind Wasser haben, da kann eine Mutter nicht schlafen, weil sich die Wunde infiziert hat.

STANDARD: Seit Anfang März gibt es Hilfe aus der Luft, seit einigen Tagen auch über den Seeweg. Ist das ein Lösungsansatz?

Macheiner: Ich sehe das kritisch. Grundsätzlich ist es natürlich zu begrüßen, aber das ist letztlich viel zu wenig. Ich persönlich halte diese Airdrops auch für sehr unwürdig. Man sieht, wo die Hilfsgüter landen, und sofort laufen viele Menschen hin, stoßen sich gegenseitig weg, um etwas abzubekommen. Und über den Seeweg dauert es sehr lange, bis Hilfe ankommt. Man muss weiter daran arbeiten, dass über den Landweg mehr Hilfe kommt.

Notunterkünfte in den Straßen von Rafah. 
In den Straßen von Rafah haben sich viele Menschen mit dem Wenigen, das zur Verfügung steht, Notunterkünfte gebaut.
AFP/MOHAMMED ABED

STANDARD: Rafah liegt ja direkt an der ägyptischen Grenze. Auf der einen Seite warten zig Lkws auf Einlass, während Sie auf der anderen Seite mitten in der großen Not mit dem Wenigen arbeiten müssen, das da ist. Wie fühlt man sich da?

Macheiner: Als ich das letzte Mal über den Landweg von Ägypten nach Gaza gereist bin, sind wir fast eine Stunde lang an wartenden Lkws vorbeigefahren. Und wenn man dann nach Rafah kommt, ist alles so klein und man wird sofort von der Masse verschluckt. Das ist unglaublich frustrierend und unverständlich. So etwas habe ich in anderen Kriegszonen noch nicht erlebt.

STANDARD: Wie läuft das ab, wenn einmal doch etwas an Hilfe in Rafah ankommt?

Macheiner: Es ist wahnsinnig chaotisch, weil die Verzweiflung so groß ist und es bei so vielen Menschen keine Ordnung mehr gibt. Die Menschen sind auch panisch, weil sie nicht wissen, wann die nächsten Hilfslieferungen kommen. Gleichzeitig ist die Frontlinie so extrem nah, da gibt es kaum Abstand.

Während im Hintergrund über Khan Younis Rauch aufsteigt, sind im Vordergrund die vielen Zelte in Rafah zu sehen.
Während im Hintergrund über Khan Younis Rauch aufsteigt, sind im Vordergrund die vielen Zelte in Rafah zu sehen.
REUTERS/Bassam Masoud

STANDARD: Wie haben Sie die Stimmung der Menschen in Ihren Gesprächen wahrgenommen?

Macheiner: Das war für mich eigentlich am eindrücklichsten und am schwersten. Die Menschen sind verzweifelt, man merkt ihnen diese Perspektivlosigkeit an. Die kriegen Panik, wenn jemand erzählt, dass die Offensive auf Rafah vielleicht bald kommt. Viele versuchen wegzukommen, aber in anderen Gebieten von Gaza ist die Versorgung ja noch schlechter.

Wenn ich durch die Straßen gegangen bin, hat man mich als Ausländerin natürlich erkannt. Die Kinder, die ja keine Schule haben, sind mir nachgerannt und haben nach Essen und Trinkwasser gefragt. In den letzten Tagen meines Einsatzes haben das auch vermehrt Erwachsene gemacht. Und sie fragen: Wann hört der Krieg endlich auf? Warum schauen die anderen Staaten, die anderen Regierungen nur zu? Warum tun sie nichts dagegen? Wir wollen das nicht, sagen sie, wir sind müde, wir wollen nach Hause und schauen, was von unseren Häusern noch übrig ist. Aber das passiert niemals feindselig, sie rechnen einem das hoch an, dass man dieses Risiko nimmt, um hier zu helfen.

STANDARD: Kann man da als Helferin überhaupt auch einmal abschalten? Gibt es Rückzugsorte?

Macheiner: Nicht wirklich. Es ist ja permanenter Lärm, auch durch Luftangriffe. Wir waren in einem Haus untergebracht, aber da gab es nur einen Raum im Erdgeschoß. Die oberen Stockwerke sind zu gefährlich. Zum Schluss haben wir die Räume oben tagsüber zumindest als Büro genutzt. Das war schon ein großer Schritt, anfangs haben wir alle nur auf dem Boden arbeiten können. Auch die Kommunikation war schwierig durch die Stromausfälle, wenn man ewig braucht, um eine Mail zu verschicken. Das macht die Arbeit dann noch schwieriger.

STANDARD: Jetzt machen Sie nur eine Woche Pause. Ist das nicht ungewöhnlich?

Macheiner: Ich habe lange überlegt, ob ich das kräftemäßig schaffe. Aber es war mir dann doch ein Anliegen, noch einmal hinzugehen, weil mir vier Wochen in Gaza zu kurz waren, um die Situation dort auch wirklich verstehen zu können. Ich habe noch genug Kraft für einen weiteren Monat, danach bleibe ich länger zu Hause.

STANDARD: Was motiviert einen eigentlich dazu, in Konfliktgebiete zu reisen und unter gefährlichsten Bedingungen zu arbeiten?

Macheiner: Das frage ich mich oft auch immer: Wo habe ich eigentlich meinen Idealismus her? Einerseits habe ich das Gefühl, ich bin wahnsinnig privilegiert – und diese Privilegien rufen woanders Ungleichheiten hervor. Ich finde es ganz wichtig, dass man sich dessen bewusst ist – und das ist dann mein Beitrag, um diesen Ungleichheiten zu begegnen. Andererseits ist medizinische Versorgung und damit das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein Menschenrecht. Das wird vielen Menschen in den Krisengebieten verwehrt. Ich möchte mit meiner Arbeit ein Bewusstsein dafür schaffen.

STANDARD: Hat man bei so viel Leid nicht oft das Gefühl, dass die Hilfe ja doch nichts bringt?

Macheiner: Wenn man diese Arbeit macht, glaubt man am Anfang, man rettet die Welt. Dann landet man schnell auf dem Boden der Tatsachen und erlebt eine Bruchlandung. Das ist der Moment, in dem viele aufhören. Aber ich fühle mich weiterhin dafür verantwortlich. Und man bekommt auch etwas zurück. Da weiß man selbst die kleinsten Erfolge sehr zu schätzen. In Rafah zum Beispiel, wo wir uns um kleine Kinder gekümmert haben, gab es einen Nachmittag, an dem wir uns vorgenommen hatten, mit ihnen ein Programm zu machen. Geschichten erzählen, malen mit Papier und Buntstiften. Wir haben das hingekriegt und in so einen Ausnahmezustand eine gewisse Leichtigkeit hineingebracht. Das ist wahnsinnig motivierend. (Kim Son Hoang, 17.3.2024)