Zum Beispiel B&R Industrial Automation, ein Unternehmen mit Sitz in der kleinen Gemeinde Eggelsberg nahe Braunau. Man stellt industrielle Automatisierungstechnik her, von Antrieben bis Robotik – und ist damit international erfolgreich. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert sei B&R in Indien tätig, sagt Marc Ostertag, bei B&R für globale Strategie zuständig. "Die Tatsache, dass Indien einer der stärksten Wachstumsmärkte der Welt ist, macht das Land zu einem klaren Kandidaten für eine mögliche weitere Expansion."

Oder RHI Magnesita, Sitz in Wien. Der Konzern stellt feuerfeste Materialien für die Industrie her, etwa für die Verkleidung von Hochöfen in der Stahlerzeugung, und ist in diesem Bereich Weltmarktführer. Bereits neun Werke betreibt RHI Magnesita in Indien; mehr als ein Fünftel des Konzerngeschäfts findet dort statt. Indien sei "ein echter Wachstumsmarkt", heißt es aus dem Unternehmen. Ganze 9600 Mitarbeiter arbeiten in Indien für RHI Magnesita. Zum Vergleich: In Österreich sind es 2500.

"Echter Wachstumsmarkt"

Indien, das ist das derzeitige Hoffnungsland vieler Wirtschaftstreibender und Politiker des Westens. Die Euphorie ist groß. US-Ökonomen riefen im Jahr 2020 gar das "indische Jahrhundert" aus; das Land werde zur "wirtschaftlichen Supermacht" aufsteigen. Das Wirtschaftswachstum ist das stärkste aller großen Länder, mehr als sechs Prozent im Jahr 2023. Die Entwicklungschancen gelten als riesig, weil das Land riesig ist: flächenmäßig das siebentgrößte der Erde; bevölkerungsmäßig mit rund 1,4 Milliarden Menschen das größte, seit Indien im Vorjahr China überholt hat.

Wanderarbeiter am
Wanderarbeiter am "Labour Chowk", dem Arbeiterstrich nahe der Hauptstadt Neu-Delhi im indischen Bundesstaat Haryana: Kommt der Reichtum vornehmlich bei der Oberschicht an?
AP

Eine kauffreudige Mittelklasse entstehe, lautet die populäre Erzählung. Der wichtigste Börsenindex, der BSE Sensex der Börse von Mumbai, erreicht laufend neue Höchststände. Die hindu-nationalistische Regierung unter Premier Narendra Modi, die im April und Mai das Parlament neu wählen lässt, sorgt dafür, dass der Boom anhält, etwa mit der Vereinheitlichung des Steuersystems – auch wenn sie zugleich chauvinistisch und minderheitenfeindlich agiert. Trotzdem: Während die Begeisterung über das benachbarte China abgekühlt ist, wegen geplatzter Immobilienblasen und autoritärer Politik, schlägt gerade die Stunde Indiens.

Kontakte knüpfen

Österreich und Europa reagieren. Auf EU-Ebene arbeitet man an einem Handelsabkommen, das einen privilegierten Zugang für europäische Unternehmen zum indischen Markt garantieren soll. Der Weg dorthin ist zwar noch weit, weil man sich in wichtigen Fragen etwa betreffend Klimaschutz nicht einig ist, aber das Ziel ist klar.

In Österreich indes machte sich Ende Februar eine vielköpfige Delegation unter Führung von Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) auf den Weg nach Indien. Der Zweck der Reise waren weniger konkrete Beschlüsse, als den Boden zu bereiten und die Kontakte zu knüpfen für viele österreichische Unternehmen, die gern den Schritt nach Indien gehen würden. Und die waren zahlreich dabei, 18 insgesamt.

Aber ist all die Begeisterung auch gerechtfertigt? Steht Indien ein chinesisches Schicksal ohne dessen dunkle Seiten bevor? Eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung, die Entstehung breiter Mittelklassen, das Ende der Armut für hunderte Millionen?

Gigantische Investitionen

Die Antwort ist schwierig – und jedenfalls nicht klar. Fest steht, dass in Indien gigantische staatliche Investitionsprogramme laufen. Allein für die Erneuerung und Dekarbonisierung der indischen Städte hat die Regierung Modi 137 Milliarden Euro vorgesehen. Allerorten in den verkehrsverstopften, chaotischen Städten wachsen halbfertige Zug- und Autobahntrassen aus dem Boden. Hochgeschwindigkeitsbahnstrecken sollen sich bald durchs Land ziehen. Daraus ergeben sich große Chancen für Unternehmen weltweit, auch für österreichische. Das Vorarlberger Seilbahnunternehmen Doppelmayr etwa, ebenfalls Weltmarktführer in seinem Bereich, hat bereits zwei Seilbahnen in Indien realisiert – 200 plant die Regierung derzeit landesweit. "Wir hoffen, die eine oder andere davon ausführen zu dürfen", sagt die Sprecherin des Unternehmens.

Doch das Gesamtbild ist nicht ungetrübt. Offen ist, inwieweit der indische Boom wirklich bei den Massen im Land ankommt. Viele Inderinnen und Inder, vor allem im Norden des Landes, sind immer noch bettelarm. Unter den neugebauten halbfertigen U-Bahn-Trassen der Städte transportieren, wie eh und je, Wasserbüffel allerlei Waren auf altertümlichen Leiterwagen. Trägerin des Booms ist eine Gruppe, die im Vergleich zur gesamten Bevölkerung winzig ist: die Oberschicht.

Wachstum für die Reichen

Die Zahlen stützen das. Laut dem Institut India Ratings & Research in Mumbai schwächelte der private Konsum in Indien ausgerechnet im Jahr 2023, als die Wirtschaft stark anwuchs. Was bedeutet das? Insgesamt wird das Land zwar reicher, aber offenbar kommt der Reichtum nur bei einigen wenigen an. "Wächst Indien vor allem für seine Reichen?", fragte kürzlich die Nachrichtenagentur Bloomberg.

Konkret legte der Konsum nur um rund drei Prozent zu; es ist der geringste Anstieg in den vergangenen 20 Jahren abseits der Corona-Pandemie. Dabei wäre "ein nachhaltiges Reallohnwachstum der Haushalte im unteren Einkommensbereich eine zwingende Voraussetzung für eine nachhaltige und breitangelegte Erholung", konstatiert India Ratings & Research.

"Alarmierend zurückentwickelt"

Noch weiter geht Ashoka Mody, ein US-Ökonom indischer Abstammung. "Indiens ökonomische Entwicklung hat sich in den vergangenen fünf Jahren alarmierend zurückentwickelt", konstatierte er kürzlich im britischen Magazin "Economist". Rund 70 Millionen Arbeiter stecken in einem völlig unproduktiven Agrarsektor fest, ohne Aussicht auf Besserung. Abseits davon haben viele arme junge Inder keine andere Wahl, als sich mit prekären Dienstleistungsjobs durchzubringen, etwa als Straßenverkäufer. Niedrig ist auch die Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben: Nur 20 Prozent der Inderinnen gehen einem Job nach; unter den Chinesinnen sind es, zum Vergleich, 60 Prozent.

Erfolgsmeldungen bezüglich der Armutsbekämpfung würden aufgebauscht, folgert Mody, Misserfolge mitunter gar unterdrückt. So habe die hindu-nationalistische Regierung die Veröffentlichung einer Erhebung im Jahr 2018 schlicht unterbunden, wonach die Armut in Indien nicht sinkt, sondern vielmehr steigt.

In China hat, aller Kritik zum Trotz, eine umwälzende Veränderung der Lebensverhältnisse für hunderte Millionen stattgefunden – in Indien hingegen ist davon vorerst nur wenig zu bemerken. Machen sich Europäer und Österreicher also falsche Hoffnungen? Wahrscheinlich nicht, trotz alledem. Denn selbst wenn der Aufschwung keine breite Basis hat, selbst wenn sich der vielgepriesene Boom vor allem auf die Lebenswelten der Oberschicht beschränkt: Entwicklungs- und Profitmöglichkeiten eröffnen sich selbst dann, wenn in einem 1,4-Milliarden-Land nur einige wenige prosperieren. Nur, ob das Jahrhundert deshalb gleich ein indisches wird, das bleibt noch länger abzuwarten. (Joseph Gepp, 3.4.2024)