Ein supraleitendes Material schwebt über einem Permanentmagneten.
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Im Leben gibt es nichts umsonst: Wer etwas erreichen will, muss einen gewissen Widerstand überwinden. Dass diese naheliegende Regel aus unserem Alltag nicht überall gilt, verdanken wir das Quantenmechanik. Elektrischer Strom kann auch fließen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Den Effekt kennen wir als Supraleitung, und er ist in verschiedenen technischen Anwendungen inzwischen Standard, wenn sehr große Magnetfelder benötigt werden.

Doch Supraleitung zu erreichen ist nach wie vor aufwendig. Der Effekt tritt vor allem bei sehr tiefen Temperaturen auf, supraleitende Magnetspulen, die bei Magnetresonanztomografen in der Medizin zum Einsatz kommen, müssen mit flüssigem Helium auf über 270 Grad unter null gekühlt werden.

Deshalb kommt der Forschung an "Hochtemperatursupraleitern" große Bedeutung zu. Sie versprechen eine breitere Einsetzbarkeit der Technologie. Magnetspulen gibt es auch in jedem Elektromotor. Supraleitung könnte hier für eine Revolution sorgen.

Der unbestrittene Star der Hochtemperatursupraleiterforschung war Ranga Dias von der Universität Rochester im US-Bundesstaat New York. Er publizierte mehrere aufsehenerregende Studien, in denen er bei stark zusammengepressten Materialproben von Supraleitung bei immer höheren Temperaturen berichtete und letztlich Raumtemperatur erreichte. Der Goldene Gral der Supraleiterforschung schien gefunden zu sein.

Studien zurückgezogen

Die zwei spektakulärsten Studien, die in den vergangenen Jahren im renommierten Fachjournal "Nature" erschienen, wurden inzwischen beide aufgrund des Verdachts der Fälschung von Daten vom Journal zurückgezogen. Ranga Dias ist zwar in sozialen Medien aktiv, wo er seine Arbeit verteidigt, unterrichtet aber derzeit nicht an seiner Universität und hat keinen Zugang mehr zu seinem Labor. Nun widmet sich ausgerechnet das Nachrichtenportal von "Nature", das seine redaktionelle Unabhängigkeit vom Journal betont, der Aufarbeitung der Affäre.

Besonders die Veröffentlichung der letzten großen Studie vor einem Jahr sorgt rückblickend für Erstaunen. Kurz davor war eine 2020 in "Nature" veröffentlichte Arbeit der Gruppe von Dias aufgrund von Zweifeln an der Korrektheit der Daten zurückgezogen worden. Trotzdem akzeptierte "Nature" eine weitere Studie mit einem noch spektakuläreren Ergebnis. Darin berichtete die Gruppe von Supraleitung bei 21 Grad und noch einmal deutlich niedrigerem Druck.

Vorgeschichte absichtlich ignoriert

Ranga Dias schien im Begriff, seinen angekratzten Ruf wiederherzustellen. Die neue Studie war dazu geeignet, denn es war davon auszugehen, dass "Nature" die neue Behauptung angesichts der Vorgeschichte besonders streng geprüft hatte. Doch auch diese Studie musste letztlich zurückgezogen werden. Warum sie überhaupt veröffentlicht wurde, offenbaren die Recherchen des Nachrichtenportals von "Nature".

Dabei zeigt sich, dass die Arbeit von 2023 keiner verschärften Prüfung unterzogen worden war. "Nature"-Chefredakteurin Magdalena Skipper sagt, das sei in dem Journal nicht üblich: "Unsere Redaktionspolitik berücksichtigt jede Einsendung für sich."

Im Gegensatz zu der Vorgangsweise anderer Journale, die sehr wohl genauer hingesehen hätten, wollten sich die Herausgeber also ganz auf die Urteile der Begutachter konzentrieren. Bei Fachjournalen ist es Standard, dass anonyme Forschende die eingereichte Arbeit prüfen. Die Gutachten selbst bleiben normalerweise vertraulich. Das "Nature"-Wissenschaftsportal bekam Einsicht, und dabei zeigte sich: Von den vier Gutachtern hatte sich nur zwei für eine Veröffentlichung ausgesprochen, die anderen beiden sahen noch offene Fragen. Die Studie wurde dennoch zur Veröffentlichung akzeptiert.

Eine supraleitende Magnetspule für einen Magnetresonanztomografen. Solche Spulen müssen heute auf extrem tiefe Temperaturen gekühlt werden. Hochtemperatursupraleiter sollen die Technologie künftig breiter anwendbar machen.
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Warnzeichen

Die Probleme rund um die Glaubwürdigkeit von Ranga Dias begannen 2021. Physik-Experimente sammeln jede Menge Messdaten, die meist nicht Teil der Publikation sind. Die veröffentlichten Daten sind oft nachbearbeitet, ein gewisses Grundvertrauen wird vorausgesetzt. Ein Fachkollege forderte Dias auf, die unbearbeiteten Rohdaten der Publikation von 2020 zur Verfügung zu stellen, was dieser auch tat.

Doch in den Daten fanden sich seltsame Muster, die auf Manipulation hindeuteten. Dias und sein Kollege Ashkan Salamat von der University of Nevada in Las Vegas lieferten eine Erklärung, die allerdings viele nicht überzeugte. "Nature" beauftragte selbst vier neue Gutachter mit der Untersuchung der Daten. Zwei davon zweifelten die Authentizität an.

Mehrere unabhängige Fachleute untersuchten parallel dazu die Daten. Sie kamen zum Schluss, die plausibelste Erklärung sei, dass zu den Daten aus der Studie einfach künstlich generiertes Rauschen hinzugefügt worden war, um sie wie Rohdaten aussehen zu lassen. All das gipfelte darin, dass "Nature" die Arbeit im September 2022 zurückzog. Zu diesem Zeitpunkt hatte Dias aber bereit eine neue Studie bei "Nature" zur Publikation eingereicht – eben jene von 2023.

Auch die Universität Rochester, an der Dias arbeitete, sah sich gezwungen, der Sache nachzugehen. Zwei separate Untersuchungen konnten keine Hinweise auf Fehlverhalten feststellen. Nah dem Rückzug der Publikation von 2020 folgte eine dritte, die ebenfalls keine Probleme fand. Erst eine vierte Untersuchung, für die die Universität externe Fachleute verpflichtete und die nun abgeschlossen wurde, bestätigt, dass es offene Fragen zur Glaubwürdigkeit der Daten gibt.

Die Gruppe um Dias

Es bleibt die Frage, welche Verantwortung das direkte Forschungsumfeld von Ranga Dias trägt. Dias war nur der Leiter eines Teams, es wäre anzunehmen, dass seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter etwas bemerkt hatten.

Das war tatsächlich geschehen. Mehrere ehemalige Studierende von Dias sprachen mit dem Nachrichtenportal von "Nature". Dabei wird offenbar, dass Dias beide genannten Publikationen sehr überhastet veröffentlichte, ohne Zeit für vorherige Absprache mit seinem Team. Dieses konnte sich teils nicht erklären, wie Dias zu seinen Ergebnissen kam. Wenn es Widerspruch gab, drohte er, die Namen von der Publikation zu streichen. Als Belege der nur schwer vorstellbaren Vorgänge dienen E-Mails und sogar Tonaufnahmen.

Die Studierenden geben an, sie seien oft überrumpelt und eingeschüchtert gewesen. Teil der Untersuchungen der Universität war das nicht: Sie wurden bei den ersten drei internen Untersuchungen nicht befragt. Erst bei der vierten, von externen Prüfern geleiteten Untersuchung, waren die Studierenden eingebunden.

Lehren für die Zukunft

Für diese Forschenden ist der Skandal um Dias eine Tragödie. "Meine Doktorarbeit wird voller gefälschter Daten sein. Wie soll ich in diesem Labor meinen Abschluss machen?", fragte sich einer der Doktoratsstudierenden von Dias. Er habe überlegt, aufzuhören.

Bei "Nature" will man nach dem Skandal nicht zur Tagesordnung übergehen. "Dies war eine zutiefst frustrierende Situation, und wir verstehen die starken Gefühle, die dies in der Gemeinschaft ausgelöst hat", sagt "Nature"-Redakteur Karl Ziemelis. "Wir werden diesen Fall sorgfältig prüfen, um zu sehen, welche Lehren daraus für die Zukunft gezogen werden können." (Reinhard Kleindl, 18.3.2024)