Eine palästinensische Frau auf der Flucht.
Eine palästinensische Frau auf der Flucht.
REUTERS/Mohammed Salem

Scharfe Kritik an der humanitären Krise in Gaza kommt nun nicht nur aus einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, sondern auch aus Brüssel. Der EU-Kommissar für Krisenmanagement und humanitären Schutz, Janez Lenarčič, bezeichnet die Lage in Gaza als "unerträglich". Er verlangt eine "sofortige Waffenruhe".

Der Massenhunger und die anhaltende Not müssten "aufhören", sagte Lenarčič in einer Pressekonferenz in Ostjerusalem zum Abschluss eines Besuchs in Israel und den Palästinensergebieten. Der Kommissar nimmt Israel in die Pflicht: Die Regierung in Jerusalem müsse endlich grünes Licht für die Öffnung weiterer Grenzübergänge in den Gazastreifen erteilen, vor allem im Norden.

Dass die USA und andere Staaten zuletzt auf den Abwurf von Hilfspaketen aus der Luft setzten, sei zwar unterstützenswert. "Aber das ist nicht genug", sagt Lenarčič.

Prinzipien der Verhältnismäßigkeit

Der Kommissar übt auch Kritik an der Kampftaktik der israelischen Streitkräfte. "An einem durchschnittlichen Kriegstag in Gaza sterben zweihundert Menschen", sagt der Kommissar in Berufung auf palästinensische Angaben. Die Zahl der Toten seit Kriegsbeginn sei unerträglich hoch. "Die Opferzahl wirft ernste Fragen auf", sagt Lenarčič: Man müsse darüber diskutieren, ob bei den Kriegshandlungen die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit beachtet werden, ob dabei ausreichend zwischen Zivilisten und Kämpfern unterschieden wird. Was der Kommissar hier andeutet, sind Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht durch Israel.

EU-Kommissar Janez Lenarčič in Ostjerusalem.
EU-Kommissar Janez Lenarčič in Ostjerusalem.
EPA/ATEF SAFADI

Israel war Ende Januar vom Internationalen Gerichtshof (IGH) aufgefordert worden, eine Reihe von Sofortmaßnahmen zu treffen, um die Opferzahl in Gaza zu senken und die humanitäre Lage zu entspannen. Der EU-Kommissar lässt nun anklingen, dass Israel diese Auflagen missachte. "Wir halten fest, dass die Zahl der Hilfslieferungen, die in den Gazastreifen hineinkommen, heute niedriger ist als vor der Entscheidung des Gerichtshofs", sagt Lenarčič.

Frauen am stärksten betroffen

Frauen und Mädchen sind von der humanitären Katastrophe in besonderem Maße betroffen. Sie leiden nicht nur wie alle anderen an Hunger und Durst, fehlender medizinischer Versorgung und Seuchen. Es gibt auch de facto keinen Zugang zur Monatshygiene. Menstruierende Frauen greifen laut der Menschenrechtsorganisation Gisha daher oft zu Stofflappen, die entweder gar nicht oder in schmutzigem Wasser gewaschen werden.

Viele Frauen erkranken an Infektionen, sie kommen mit Fieber in Kliniken und Krankenhäuser. Dort werden sie oft weggeschickt, weil die wenigen noch funktionierenden Krankenhäuser ihren Fokus auf lebensrettende Maßnahmen legen.

Besonders schwer betroffen sind die mehr als 50.000 Schwangeren in Gaza. Die anhaltende Unterversorgung mit Nahrung und sauberem Wasser führt laut Angaben der Al-Helal-Geburtenklinik zu einem gehäuften Auftreten von Fehl- und Stillgeburten.

Laut UN-Angaben bringen jeden Tag durchschnittlich 180 Frauen in Gaza ein Kind zur Welt. Humanitäre Helferinnen erzählen von Entbindungen unter schwersten Bedingungen – im Freien, in öffentlichen Toiletten, in überfüllten Massenlagern.

Kaiserschnitt ohne Betäubung

Selbst jene Frauen, die das Glück haben, in einem Krankenhaus entbinden zu können, sind dort meist unterversorgt, wie aus einem Artikel in der Fachzeitschrift "The Lancet" hervorgeht. Es fehlt an Medikamenten und Anästhesie; medizinisch notwendige Kaiserschnitte werden vielfach ohne jede Betäubung durchgeführt. Für jene Frauen, die während des Geburtsvorgangs viel Blut verlieren, gibt es keinen Zugang zu Blutkonserven. Da es an Betten und Ärzten akut mangelt, werden Frauen meist sofort nach der Geburt aus dem Krankenhaus entlassen. In den überfüllten Flüchtlingsunterkünften sind sie und die Neugeborenen Seuchen, Kälte, Hunger und Dehydrierung ausgesetzt.

Mutter zieht Kind eine Windel an.
Auch Windeln sind im Gazastreifen ein rares Gut.
AFP/MOHAMMED ABED

EU-Kommissar Lenarčič nimmt nicht nur Israel in die Pflicht. Von den Terrorgruppen in Gaza fordert er die "sofortige, bedingungslose Freilassung der Geiseln". Über die Konditionen einer ganz und gar nicht bedingungslosen Freilassung der Verschleppten herrscht weiterhin keine Einigkeit. Vertreter der Hamas haben Kairo, wo die Verhandlungen über einen möglichen neuen Geisel-Deal stattfinden, am Donnerstag verlassen. Hoffnungen, wonach es vor Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan am Montag zu einer Einigung kommen könnte, dürften sich somit zerschlagen. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 8.3.2024)