Bei der Massenpanik am Donnerstag wurden mehr als 100 Menschen getötet.
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Die Bilder aus Gaza sind grauenvoll: Menschen, die in der Dunkelheit in Panik davonrennen, Schüsse, Schreie. Das geschah rund um vier Uhr morgens am Donnerstag, als sich tausende Menschen um einen Konvoi von Hilfslieferungen versammelten, der soeben einen Checkpoint der israelischen Armee passiert hatte.

Bald hieß es in palästinensischen sozialen Medien und später auch in vielen internationalen Agenturen, die israelische Armee habe in die Menge hungernder Zivilisten geschossen. Von einem "Massaker" ist nun in arabischsprachigen Medien die Rede. Von der Hamas kontrollierte Behörden beziffern die Zahl der Todesopfer mit mehr als 100. Israels Armee bestreitet diese Zahlen. Dass es Tote gab, bestätigt die Armee. Die Zivilisten seien aber nicht an Schussverletzungen gestorben, sondern in einer Massenpanik erdrückt und erstickt worden. Dem widersprechen wiederum Angaben von Ärzten aus Krankenhäusern in Gaza, die von Einschüssen im Oberkörper erzählen. Augenzeugen sprachen zudem von Artilleriefeuer.

Vorfälle in unmittelbarer Nähe

Ein Armeesprecher versuchte am Donnerstagnachmittag gegenüber der Auslandspresse Klarheit zu schaffen. Rund 30 Lkws seien an der Küstenstraße von Süden in Richtung Norden unterwegs gewesen. Nachdem sie den Checkpoint passiert hatten, seien Menschenmassen auf die Fahrzeuge losgestürmt. Dabei seien Menschen zertrampelt und zum Teil von den Lkws überrollt worden. Schüsse, die auf Videos zu hören sind, stammten aber nicht von israelischen Soldaten, sondern von Palästinensern, behauptet die Armee.

Wenig später und rund 100 Meter entfernt hätten dann auch israelische Soldaten das Feuer eröffnet, sagt der Sprecher. Man habe aber nicht in die Menge der Hungernden geschossen, sondern sich gegen Personen verteidigt, die auf Stellungen der Armee losgelaufen seien. Es handle sich um "zwei verschiedene Vorfälle", sagt der Sprecher – später gibt er aber zu, dass die beiden Vorfälle nur in wenigen Hundert Metern Entfernung und auch in geringem zeitlichem Abstand stattgefunden hatten.

Waren es also Flüchtende vor der Massenpanik, die auf die Soldaten zurannten, die dann zu schießen begannen? "Es ist eine Kriegssituation", sagt der Sprecher. Man habe aber jedenfalls Warnschüsse abgegeben, bevor man auf die Zivilisten schoss. Nach dem Militärbriefing war die Zahl der offenen Fragen bei den Journalisten größer als die Zahl der Antworten. "Jetzt bin ich so richtig verwirrt", sagt eine Korrespondentin eines US-Mediums. Mehrere Nachfragen nach den konkreten Koordinaten und Zeitpunkten der Vorfälle konnte die Armee nicht liefern. Die Armee werde den Vorfall jedenfalls "genau untersuchen", heißt es.

Aussage gegen Aussage

Es steht nun also Aussage gegen Aussage: Während palästinensische Angaben darauf hindeuten, dass die Massenpanik erst entstand, als Schüsse abgefeuert wurden, erklärt die Armee, dass die Massenpanik bereits ausgelöst wurde, als die Lkws über den Checkpoint rollten. Geschossen wurde demnach erst später und nur zur Verteidigung. Palästinensische Berichte, wonach Israels Armee sogar Panzer gegen die Zivilisten eingesetzt habe, weist das Militär vehement zurück.

US-Präsident Joe Biden verlangt nun von Israel eine Dokumentation des Vorfalls, um die Vorwürfe klären zu können. Nur eine Waffenruhe könne garantieren, dass sich solche Tragödien nicht mehr ereignen. Auch aus Europa kamen bestürzte Reaktionen, zum Teil mit deutlicher Kritik an Israel gepaart: "Ich verurteile diese Schießereien aufs Schärfste und verlange Wahrheit, Gerechtigkeit und Achtung des Völkerrechts", erklärte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf X (vormals Twitter).

In Israel hingegen war von Aufregung wenig zu bemerken. In einer ausführlichen Pressekonferenz von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Donnerstagabend war der Vorfall in Gaza kein Thema. In Tel Aviv und Jerusalem gingen Demonstranten auf die Straße, um einen Waffenstillstand zu fordern, die Proteste waren bereits vor der Tragödie in Gaza geplant worden. Manche der Demonstranten trugen als Zeichen der Solidarität mit den Zivilisten in Gaza Mehlsäcke mit sich herum. In propalästinensischen Sphären der sozialen Medien nämlich wird der Vorfall vom Donnerstag als "Mehlmassaker" bezeichnet.

Hilfsorganisationen berichten seit Monaten von akutem Hunger und massiver Verzweiflung unter Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza, vor allem jenen, die sich in den nördlichen Gebieten aufhalten. Jeder Lkw, der Hilfslieferungen bringe, werde von Hungernden gestürmt. Zudem gibt es Berichte über Plünderungen durch Kriminelle, die Hilfskonvois stürmen, um dann aus dem Verkauf der Güter Profit zu schlagen. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 1.3.2024)