Zensur ist kein beliebtes Wort, schon gar nicht bei Journalisten. In Israel ist die Militärzensur jedoch ein respektiertes Instrument, um die Medien daran zu hindern, Geheimnisse zu enthüllen, die aus guten Gründen im Dunkeln bleiben – meist der nationalen Sicherheit zuliebe. So kommt es, dass seit Monaten zwar viele Journalisten und Journalistinnen in Israel wissen, warum die Armeeführung sich bereits Stunden vor dem Beginn des Massakers vom 7. Oktober darüber austauschte, ob eine ernste Gefahr eines nahenden Terroranschlags bestünde. Die Fakten waren den Medien bekannt. Allein, sie verschwiegen sie – denn so verlangte es der Zensor der Armee.

Wusste Benjamin Netanjahu Bescheid über die Fehleinschätzung israelischer Geheimdienste?
Wusste Benjamin Netanjahu über die Fehleinschätzung israelischer Geheimdienste Bescheid?
REUTERS/RONEN ZVULUN

Umso überraschender kam es, dass vor wenigen Tagen der israelische Nachrichtensender 14 die Bombe platzen ließ: "Hunderte" israelische SIM-Karten seien am Abend vor dem 7. Oktober im Gazastreifen plötzlich aktiviert worden. Es waren jene SIM-Karten, derer sich die Terroristen am nächsten Morgen bei der Ausführung ihres mörderischen Tatplans bedienen sollten.

In den Geheimdiensten und der Armee-Intelligenz gilt die gehäufte Aktivierung israelischer SIM-Karten in Gaza als Warnsignal. Palästinenser in Gaza nutzen zwar neben dem lokalen Anbieter auch israelische Provider, weil sie entweder in Israel Jobs nachgehen oder nahe an der Grenze leben; dennoch behielt die Armee die Netzaktivität im Auge – als ein Warnsignal von vielen, die auf einen möglichen Anschlag hindeuten könnten.

Kein Alarm geschlagen

In jenen kritischen Stunden vor dem Hamas-Überfall entschied sich die Armeeführung, keinen Alarm zu schlagen. Es handle sich entweder um eine bloße Übung der Terrorgruppen oder im Ernstfall maximal um einen punktuellen Angriff, urteilte man. Um einen solchen abzuwehren, wurde eine Einsatzgruppe des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet noch in den Nachtstunden an die Grenze geschickt. Diese Kämpfer waren die Ersten, die in Schusswechsel mit den eindringenden Terroristen verwickelt wurden, viele von ihnen starben. Wer Verantwortung für das multiple Versagen im Vorfeld des 7. Oktober 2023 trägt, wird in der Armee nun intern untersucht. Nach dem Krieg, so heißt es, solle zudem ein Untersuchungsausschuss die Causa durchleuchten, dabei soll auch die politische Verantwortung geklärt werden.

Dass die SIM-Karten-Affäre genau jetzt an die Öffentlichkeit kommt, ist wohl kein Zufall. Jener Sender, der die Zensurschranke durchbrochen hat, gilt als Schoßhundkanal von Benjamin Netanjahu und seiner Likud-Partei. Seit Monaten ist Netanjahu damit beschäftigt, alle Verantwortung für das sicherheitspolitische Versagen rund um den 7. Oktober der Armee, und nur der Armee zuzuschieben.

In den vergangenen Tagen kam Netanjahu erneut unter Beschuss, unter anderem durch US-Präsident Joe Biden: Er erklärte die von Netanjahu geführte rechtsreligiöse Koalition als Sicherheitsrisiko für Israel. Das will Netanjahu nicht auf sich sitzen lassen. Prompt reagierte er auf die Kanal-14-Leaks, indem er betonte, er habe von nichts gewusst – die Armee habe ihm das SIM-Karten-Faktum verschwiegen und sei eigenmächtig zu ihrer Fehleinschätzung der Lage gelangt.

Wie viel wusste "Bibi"?

Eine breite Öffentlichkeit erfuhr dank Aufhebung der Zensur schließlich, dass Netanjahu sehr wohl involviert war. Er hatte die Warnungen gekannt – das gab der Premier schließlich auch öffentlich zu. Man erfuhr auch, dass es sich – anders als auf Kanal 14 behauptet – nicht um mehrere Hundert, sondern nur um ein paar Dutzend SIM-Karten handelte. Eine Größenordnung, die man aufgrund früherer Erfahrungen als nicht alarmierend einstufte.

Während Netanjahu zurückruderte, ist der Schaden – die Ausbreitung von Geheimdienstinterna in Medien, die auch den Terrorgruppen zugänglich sind – nicht wiedergutzumachen. Zuseher von Kanal 14, die ansonsten keine Medien konsumieren, sind indes immer noch der Ansicht, dass Netanjahu von nichts wusste: Dort wurde die Affäre bis zuletzt nicht aufgeklärt. (Maria Sterkl, 29.2.2024)