Menschen warten bei UNRWA-Zentrum in Rafah auf Hilfe. 
Bei einem UNRWA-Verteilzentrum in Rafah warten viele darauf, Hilfe zu bekommen.
REUTERS/Mohammed Salem

"Apokalyptisch, mir fällt leider kein anderes Wort ein" – so beschreibt Walter Hajek die Lage im Gazastreifen. Es gebe zwar ein bisschen Hilfe durch die wenigen Hilfskonvois, doch das reiche bei weitem nicht aus, sagt der Leiter der Internationalen Zusammenarbeit des Roten Kreuzes. Im Jänner, schildert Hajek, seien im Schnitt täglich 135 Lkws mit Hilfsgütern nach Gaza gekommen. Im Februar gab es Tage mit gerade einmal zehn Lkws. "Für zwei Millionen Menschen – das ist absurd, das ist nicht einmal der Tropfen auf den heißen Stein", sagt Hajek.

Da Israel weiterhin nur sehr begrenzt Hilfslieferungen über den Landweg ermöglicht, haben die USA und andere Länder damit begonnen, Hilfsgüter aus der Luft abzuwerfen. Walter Hajek sieht dies nur als Option "im äußersten Notfall". Denn wichtig sei bei all der Hilfe auch, dass sie richtig und dem Bedarf entsprechend verteilt werde. "Wer Hilfsgüter über den Luftweg bekommt, wird schnell zum Ziel von Angriffen. Wer mit Sicherheit nicht die Hilfe bekommt, sind die, die sie am meisten brauchen." Das gleiche Problem könnte auch bei der Hilfe über den Seeweg entstehen, die ersten Lieferungen aus Zypern sind am Freitag eingetroffen. Allerdings ist hier noch nicht bekannt, wie genau diese Hilfsgüter an die Bevölkerung in Gaza weitergegeben werden sollen.

Video: Erstes Schiff mit Hilfsgütern erreicht Küste vor Gazastreifen
AFP

Nur "ergänzende Maßnahmen"

Auch Andreas Knapp, Generalsekretär der Caritas Österreich für Internationale Programme, sagt, dass Hilfe aus der Luft oder über den Seeweg lediglich "ergänzende Maßnahmen" sein können. Einzig mittels Lkws über den Landweg können genug Hilfsgüter gebracht werden, um die große Not zu lindern. Denn, so Knapp: "Die gesamte Bevölkerung ist von einer Hungersnot bedroht. 380.000 Menschen hungern akut." Ärzte im zerstörten Norden berichten, dass Babys an Unterernährung sterben. Am Donnerstag gaben die von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden in Gaza zudem bekannt, dass sechs auf Hilfsgüter wartende Menschen vom israelischen Militär erschossen wurden. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.

Hilfsgüter werden über dem Gazastreifen abgeworfen.
Seit Anfang März werden über Gaza verstärkt Hilfsgüter abgeworfen. Hilfsorganisationen sehen das kritisch.
EPA/ATEF SAFADI

Passend dazu haben am Mittwoch 25 NGOS wie Amnesty International oder das Danish Refugee Council die Regierungen aufgerufen, verstärkt einen Waffenstillstand und damit mehr Hilfe über den Landweg einzufordern. "Staaten können sich nicht hinter Airdrops und einem maritimen Korridor verstecken, um so die Illusion zu schaffen, man tue genug für die Menschen in Gaza", heißt es.

Schwierige Entscheidungen

Betroffen von der katastrophalen Situation im Gazastreifen sind vor allem Frauen und Kinder, erzählt Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Österreich. Die Lage sei sowohl im Süden des Gazastreifens prekär, wo zuletzt das Nasser-Spital als nicht mehr funktionsfähig eingestuft wurde und Angst vor einer neuen Bodenoffensive Israels vorherrscht, als auch im Norden, wo die Menschen bereits seit Monaten von so gut wie allen Hilfsgütern abgeschnitten sind.

In dieser humanitär herausfordernden Lage geraten Hilfsorganisationen oft zwischen die Fronten. Gesundheitseinrichtungen werden im Gazastreifen derzeit häufig selbst zum Ziel von Angriffen und Schauplatz von Kampfhandlungen. "Das führt auch dazu, dass wir ständig evakuieren müssen", sagt Laura Leyser im Gespräch mit dem STANDARD. "Und immer wieder die unglaublich schwierige Entscheidung treffen müssen, Patientinnen und Patienten im Stich zu lassen."

Angriffe besonders intensiv

In den vergangenen Jahren seien medizinische und humanitäre Einrichtungen Leyser zufolge auch in anderen Konfliktgebieten immer mehr zur Zielscheibe geworden, etwa im äthiopischen Tigray oder im Jemen. "Das wird immer normaler und immer mehr geduldet", kritisiert Leyser. Im Gazastreifen sei es allerdings besonders intensiv, in den vergangenen Monaten hätten sich die gezielten Angriffe auf MSF-Unterkünfte gehäuft. "So oft in so kurzer Zeit angegriffen zu werden, das ist schon eine neue Dimension", sagt Leyser. Und im Gazastreifen gebe es anders als in anderen vielleicht größeren Ländern, die nicht zur Gänze von Kriegshandlungen betroffen sind, einfach keine Ausweichmöglichkeiten. "Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza", sagt Leyser. "Nichts und niemand ist in Sicherheit, auch wir nicht."

Das erste Schiff mit Hilfsgütern ist unterwegs nach Gaza.
Auch über den Seeweg ist bereits Hilfe unterwegs.
EPA/WCK HANDOUT

Andreas Knapp von der Caritas sagt dazu, dass es "extrem herausfordernd" sei, für die Sicherheit der Helfer und Helferinnen zu sorgen. Die Partnerorganisationen, über die die Caritas in Gaza hilft, schaffen es aber, ihrem Personal zumindest punktuell "sichere Häfen" zur Verfügung zu stellen, von denen aus es arbeiten könne. Dadurch sei es möglich, auch im Norden von Gaza noch zu helfen.

Streitfrage Neutralität

Nicht nur auf dem Kriegsschauplatz, sondern auch in der öffentlichen Diskussion über den Gaza-Krieg geraten Hilfsorganisationen zwischen die Fronten. "Wir bekommen sicher häufiger als in anderen Konflikten die Rückmeldung, dass wir nicht als neutral wahrgenommen werden", kritisiert Leyser, "obwohl wir einfach nur die Erfahrungen und Erlebnisse unserer Kolleg:innen vor Ort weitergeben."

Gründe sieht die MSF-Chefin in dem politisch sehr stark aufgeladenen Diskurs und der komplizierten Lage vor Ort. Medizinische Einrichtungen und Spitäler werden oft für militärische Zwecke missbraucht, sagt Leyser. "Das bringt eine unglaubliche Unsicherheit für unsere Arbeit und führt vielleicht auch zu einer Verunsicherung bei der Bevölkerung."

Wenige Spenden

Diese Verunsicherung schlägt sich offenbar auch in der Spendenbereitschaft nieder und hat damit direkte Auswirkungen auf die Arbeit, die Hilfsorganisationen leisten können. Leyser bezeichnet die Spendenbereitschaft für Hilfe im Gazastreifen als "sehr niedrig im Vergleich" zu anderswo. Bisher seien nur rund 115.000 Euro zusammengekommen. Zum Vergleich: Nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei waren es vergangenes Jahr mehr als 1,2 Millionen Euro, für Hilfe im Ukrainekrieg kamen 2022 mehr als drei Millionen Euro zusammen. Der Zeitraum ist zwar mit etwa fünf Monaten im Gazakrieg kürzer, allerdings kommen laut MSF 90 Prozent der Gesamtsumme innerhalb der ersten acht bis zehn Wochen nach großen Ereignissen zusammen.

Vielen Menschen würde es schwer fallen, sich ein unabhängiges Bild davon zu machen, was passiert, glaubt Leyser. Ein Aspekt dabei ist die limitierte Berichterstattung: Seit Kriegsbeginn können internationale Journalistinnen und Journalisten nicht in den Gazastreifen, nur einige wenige konnten mit Begleitung der israelischen Armee für einen sehr begrenzten Zeitraum und auch nur in ausgewählte Ortschaften einreisen. Zugleich gebe es ständig Berichte über die großen Schwierigkeiten, die humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bekommen. "Das heißt aber nicht, dass wir nicht vor Ort sind und nicht versuchen, unser Bestes zu geben und natürlich dafür auch Gelder brauchen", erklärt Leyser.

Journalisten in Gaza flüchten vor Explosionen.
Nur wenige Journalisten und Journalistinnen sind in Gaza tätig, weil es zu gefährlich ist.
Hossam Shabat via REUTERS

Auch beim Österreichischen Roten Kreuz ist der Spendeneingang für Hilfe in Gaza "sehr niedrig", wie Walter Hajek verrät. So richtig erklären könne er sich das nicht. Andreas Knapp von der Caritas sagt, "es kommen Spenden rein, das ist okay". Doch man nehme in den sozialen Medien schon eine große Verunsicherung bei den Spendern und Spenderinnen wahr, es würden sie viele Fragen erreichen. "Wir führen das auf die Komplexität dieses Konflikts zurück, die Verunsicherung ist dann je nach Entwicklung mal stärker, mal schwächer."

Abwägen bei Nachbar in Not

Knapp ist aktuell auch Vorstandsvorsitzender von Nachbar in Not, das bislang keine Spendenaktion für den Gazastreifen gestartet hat. Warum das so sei? In den Statuten, erklärt Knapp, gebe es klare Kriterien, wann man zu einer Spendenaktion aufruft und wann nicht. "Es geht um das Ausmaß der Katastrophe, die Wirksamkeit der Hilfe, die Einschätzung der Spendenbereitschaft der österreichischen Bevölkerung und darum, ob die Hilfsorganisationen im Krisengebiet die Infrastruktur und den Zugang haben." Da müsse man immer abwägen, außerdem sei es in Gaza eine sehr dynamische Situation.

Hilfsgüter werden in Rafah verteilt. 
Die wenigen Hilfsgüter, die bisher nach Gaza kommen, reichen bei weitem nicht aus.
AFP/-

Sollten sich die Bedingungen in Gaza wieder ändern, könne man aber rasch reagieren und eine Spendenaktion starten, sagt Knapp: "Ein langer Waffenstillstand und damit mehr Zugang, um Hilfe leisten zu können, wäre ein wesentlicher Aspekt für unsere Einschätzung. Die überschaubare Spendenbereitschaft spielt eine Rolle, aber gewichtigere Argumente sind das Ausmaß der Katastrophe und die Möglichkeiten, um helfen zu können."

"Mehrdimensionale Gründe"

Bei der Hilfsorganisation Care, einer Mitgliedsorganisation von Nachbar in Not, erklärt man sich "eine gewisse Zurückhaltung" bei der Spendenbereitschaft mit "mehrdimensionalen Gründen", unter anderem mit der Wirtschaftslage. "Es gibt zahlreiche chronische Konfliktherde um Europa herum und weltweit sowie sich überlagernde Konflikte", sagt Andrea Barschdorf-Hager, Geschäftsführerin von Care Österreich. "Für Privatspender:innen ist es extrem herausfordernd, sich zu entscheiden, was sie unterstützen." Barschdorf-Hager betont aber, dass Care schon vor Kriegsbeginn in der Region im Einsatz war, und "auch jetzt reichen wir ein Projekt nach dem anderen für Hilfsmaßnahmen in Gaza ein". Bei einem Konflikt "in so einer Dimension" liege der Schwerpunkt nicht ausschließlich auf Privatspenden.

Die humanitäre Hilfe, so schwierig und überhaupt nicht ausreichend sie auch in Gaza derzeit ist, würde aber komplett zusammenbrechen, wenn man das in die Kritik geratene UN-Palästinenser-Hilfswerk (UNRWA) auflösen oder seine Mittel kürzen würde. "Das ist die mit Abstand größte Hilfsorganisation. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat in Gaza 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, UNRWA 13.000. Das ist eine ganz andere Dimension, die sind unersetzbar", sagt Hajek. Würde man bei den jetzt schon "apokalyptischen" Zuständen auch noch UNRWA einstellen, dann wäre das "das absolute Worst Scenario". (Kim Son Hoang, Noura Maan, 15.3.2024)