GASTBEITRAG: Christian Havranek

Eine Business-Frau gibt einer anderen Person im Meeting ein freundliches High-Five
Gleichberechtigung, gute Arbeitsbedingungen und Chancengleichheit sind die Säulen sozialer Regulatorik in Unternehmen.
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Mitte des 19. Jahrhunderts waren Dampfkessel die führende Technologie für Antriebe und Energieerzeugung. Ihre Schattenseite: schwere Unfälle durch Druckkesselexplosionen. Erst nach der Gründung des Technischen Überwachungsvereins (TÜV) Süd im Jahr 1866 und der Einführung regelmäßiger Sicherheitsrevisionen ging die Zahl der Unfälle in nur wenigen Jahren dramatisch zurück. Seither begleitet der TÜV alle technologischen Revolutionen.

Heute soll das Environmental-Social-Governance-Regelwerk (ESG) bei der Bewältigung der wohl größten Herausforderung helfen: "Wie schaffen wir es im Anthropozän, nachhaltig zu wirtschaften?" Auf die Ressource Mensch bezogen stehen hinter dem S in "Environmental, Social, Governance" die drei Säulen Arbeitsbedingungen, Gleichberechtigung und Chancengleichheit sowie arbeitsbezogene Rechte. In der verpflichtenden Berichterstattung werden hier Analysen und Kennzahlen aus mehr als einem Dutzend Perspektiven verlangt. Was bedeutet das strategisch?

Dazu zwei Beispiele:

Schwächen …

Umfassende Gleichstellung und Diskriminierungsfreiheit in allen Dimensionen sind für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der heutigen Arbeitsgeneration von großer Bedeutung. Dazu ist im ESG-Regelwerk aber manches noch zu oberflächlich gelöst. So muss man die Geschlechterverteilung auf der obersten Führungsebene angeben, aber selbst definieren, was man als oberste Führungsebene versteht. Auch ist die Altersstruktur des Unternehmens getrennt zu berichten. So sieht bestenfalls ein erster Schritt zu einer umfassenden Gleichstellungsstrategie aus, die Gender, Generationen, Menschen mit Beeinträchtigungen und unterschiedliche interne Zielgruppen integriert betrachtet.

Wenig sinnvoll scheint auch die Vorgabe, beim Thema geschlechtsspezifisches Verdienstgefälle und Gehaltsunterschiede das Verhältnis der Jahresgesamtvergütung der höchstbezahlten Einzelperson (inklusive Vorstand und Geschäftsführung) zum Median aller Beschäftigten zu berechnen. Spiegelt das Ergebnis hier eher eine verteilungspolitische Perspektive, wäre aus Gendersicht viel eher ein Vergleich der Gehaltsunterschiede zwischen den verschiedenen angestellten Beschäftigungsgruppen mit ihrem Median relevant.

… und Potenziale

Das ESG-Rahmenwerk erlaubt es aber, vieles besser zu machen. So kann das Reporting auf Funktions- oder Berufsgruppen ausgedehnt werden. Wichtige fehlervermeidende Korrekturmaßnahmen wie die Hochrechnung von Teilzeit auf Vollzeit oder die Darstellung der Verweildauer im Unternehmen in bestimmten Zielgruppen können helfen, ein umfassendes Bild geschlechtsspezifischer Verdienstgefälle herauszuarbeiten.

Immer wieder wird im ESG-Framework die doppelte Wesentlichkeitsanalyse betont, also die Betrachtung der Auswirkungen des Unternehmens und seiner Handlungen auf seine Umwelt und vice versa. Beim Thema HR sollen aber laut Vorgaben zwar die Auswirkungen des Geschäftsmodells auf die Beschäftigten dargestellt werden, nicht aber die Auswirkungen von Belegschaft und Arbeitsmarkt auf die Chancen einer nachhaltigen Umsetzung des Geschäftsmodells. Das beste Beispiel: Der wesentlichste Hebel nachhaltigen HR-Managements, nämlich der Aufbau einer Talent-Pipeline und Nachfolgeplanung für kritische Schlüsselfunktionen, wird nicht erwähnt.

Richtig gemacht, kann das S in ESG zur Beantwortung einer der wichtigsten Nachhaltigkeitsfragen des Unternehmens beitragen: Ist unser Personalmanagement nachhaltig, und erlaubt es uns, unser Geschäftsmodell auch in Zukunft erfolgreich umzusetzen? (Christian Havranek, 18.4.2024)