Viktor Orbán scheint die unangenehme Affäre möglichst schnell aus der Welt schaffen zu wollen.
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Fast eine Woche schwieg Ungarns mächtigster Mann, der rechtspopulistische Ministerpräsident Viktor Orbán, zu dem Skandal, den die von ihm ins Amt eingesetzte Staatspräsidentin Katalin Novák verursacht hatte. Wie nämlich am Freitag vor einer Woche bekannt wurde, hatte die Inhaberin des höchsten Staatsamtes vor einem Dreivierteljahr einen Mann begnadigt, der wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch rechtskräftig verurteilt worden war.

Endre K. hatte als stellvertretender Leiter des Kinderheims in Bicske bei Budapest die pädophilen Straftaten seines Chefs vertuscht und minderjährige Opfer zur Widerrufung ihrer Aussagen zu nötigen versucht. Dafür hatte K. drei Jahre und vier Monate Gefängnis erhalten.

Beweggründe unklar

Der Begnadigungsskandal hat Ungarn tief erschüttert und auch weit in die Anhängerschaft von Orbáns Fidesz-Partei hinein irritiert. Novák äußerte sich nicht zu den Beweggründen für die umstrittene Amnestierung – was sie laut Gesetz nicht muss, aber tun könnte. Medien mutmaßen, dass K.s gute Vernetzung mit der Kirche und mit Angehörigen Orbáns in dessen Heimatort Felcsút, der nur wenige Kilometer von Bicske entfernt liegt, ausschlaggebend gewesen sein könnten.

Genaues weiß man aber immer noch nicht. Über ihre ganze politische Laufbahn hinweg, so etwa als Fidesz-Vizevorsitzende und Familienministerin, hatte sich Novák ultraloyal zu Orbán verhalten. Dass sie gegen seinen Willen handeln würde, galt bislang als unvorstellbar.

Orbán brach sein Schweigen, als er am Donnerstag den von ihm persönlich gezeichneten Entwurf eines Verfassungszusatzes im Parlament einreichen ließ. Darin steht: "Das Staatsoberhaupt kann sein Begnadigungsrecht im Falle von absichtlich begangenen Straftaten gegenüber Minderjährigen nicht ausüben." In der Begründung zum Entwurf schrieb er: "Um die Amnestieentscheidung der Staatspräsidentin sind Diskussionen entstanden. Diese Debatte muss für jeden ungarischen Menschen in beruhigender Weise abgeschlossen werden."

Immer wieder Verfassungsänderungen

Den Verfassungszusatz dürfte das Parlament bald in gehabter Weise durchwinken. Mit der auf Knopfdruck steuerbaren Zweidrittelmehrheit der Fidesz-Partei im Rücken gefällt sich Orbán immer wieder in anlassbedingter Verfassungsgesetzgebung. Da fanden auch Stehsätze der Orbán-Ideologie Eingang ins Grundgesetz wie: "Der Vater ist ein Mann, die Mutter eine Frau." Konsequenz dieser Verfassungsprosa ist freilich, dass gleichgeschlechtliche Paare in Ungarn keine Kinder adoptieren dürfen – auf der niederträchtigen Unterstellung beruhend, dass Homosexuelle irgendwie auch pädophil wären.

Im Falle des Pädophilenhelfers K. ändert allerdings Orbáns Verfassungszusatz nichts daran, dass die Amnestierung dieses Straftäters nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Er schafft auch keine Transparenz in Hinblick auf Personen, die der Staatspräsidentin die Begnadigung K.s eventuell anempfohlen haben.

Mögliche Ersatzhandlung

Orbáns Schritt wirkt wie eine Ersatzhandlung, um die unangenehme Affäre möglichst schnell aus der Welt zu schaffen. Kein Wort fand die Orbán-Kommunikation bislang für die damalige Justizministerin Judit Varga, ohne deren Gegenzeichnung die Begnadigung nicht rechtswirksam geworden wäre. Sie will man aus der Schusslinie halten, weil sie die Fidesz-Liste für die Europawahl im Juni anführt.

Novák selbst wirkt zunehmend isoliert – und desorientiert. Den von Orbán angestrebten Verfassungszusatz werde sie nach der Verabschiedung im Parlament "mit frohem Herzen" unterschreiben, teilte sie am Donnerstag mit. Der Politik-Analyst Gábor Török sieht indes ihre politische Karriere am Ende, unabhängig davon, ob sie im Amt bleibt oder nicht. (Gregor Mayer, 9.2.2023)