Festspielorte St. Pölten
Das Ballett am Rhein bringt "Drei Meister – Drei Werke" ins Festspielhaus. Mit dabei ist Hans van Manens "Visions Fugitives".
Roman Novitzky

Was ist anders für das Ballett von heute? Wer in einer Rückschau den Tanz der vergangenen drei Jahrzehnte rekapituliert, erinnert sich an eine radikale Wende während der 1990er-Jahre in Europa. Das breite Spektrum der in den Eighties aufblühenden Choreografie wirkte bereits beliebig, und dem sich zwar diversifizierenden, aber institutionell gebundenen Ballett sollte etwas richtig Oppositionelles entgegengestellt werden.

Der tanzende Körper wurde zerlegt und Zerreißproben ausgesetzt, die Definition dessen, was alles Tanz sein kann, erfuhr eine Erweiterung. Und Tanzschaffende begannen, die Zeichenhaftigkeit der Figuren auf der Bühne auszuloten. Daneben wirkten nicht nur das klassische, sondern auch das moderne Ballett hausbacken. Hätte William Forsythe mit seinen Experimenten diese Form des Tanzes nicht aufgemischt, wäre sie damals zur Gänze aus dem zeitgenössischen Aufführungsspektrum gefallen.

Freiheit und Filterblasen

Heute sieht alles anders aus. Der kritische Tanz mit seiner Freiheit des Ausprobierens ist häufig ein­dimensional ideologisch geworden. Man flüchtet vor unserer vielschichtigen Zeit in Filterblasen. Darin werden ästhetische Fragen, die den Inhalt jeder Arbeit formal bestimmen, gar nicht mehr gestellt. Daher wirkt vieles, was im sich "progressiv" nennenden Gegenwartstanz gerade als heiß gilt, eher abgestanden.

In diesem Kontext kann das Ballett neu punkten. Auf hohle Virtuosität verzichtet es schon lange, und auch jener zähe Narzissmus, der sich dort so lange gehalten hat, scheint suspendiert zu sein.

Stattdessen bringt das Ballett des 21. Jahrhunderts sensible Körper in Bewegung, die Haltung zeigen, indem sie Fragilität und Stärke in ein unseren wachsenden Verunsicherungen adäquates Verhältnis zueinander bringen.

Liebe à la Marie und Pierre

Genau das veranschaulichen jetzt drei Abende im Programm des Festspielhauses St. Pölten: Bobbi Jene Smiths Zweiteiler Marie & Pierre mit dem Ballett des Theaters Basel, ein Tripleabend des Ballett am Rhein aus Werken von George Balanchine, Hans van Manen und William Forsythe sowie – auch als Teil des Programms im Tangente-Festival – ­Assembly Hall von Crystal Pite und Jonathon Young.

Marie & Pierre erzählt von einem wechselvollen Liebesverhältnis zweier konträrer Charaktere. Smith, eine renommierte, in Iowa geborene Choreografin, hat neun Jahre für die israelische Batsheva Dance Company getanzt, bevor sie sich auf eigene Beine stellte und international auf der Bühne und im Film Karriere machte.

Ihr Ehrgeiz, neue Erzählformen für das Ballett zu entwickeln, spiegelt sich in dem Zweiakter mit seinen zahlreichen Figuren und deren unterschiedlichen Verhältnissen hochdynamisch wider.

Ballett-Ikonen

Unter dem Titel Drei Meister – Drei Werke sind Arbeiten dreier ikonischer Ballettchoreografen zusammengefasst: Balanchine (hier zu sehen: Rubies) hat das Ballett in den Neoklassizismus transferiert, van Manens (Visions Fugitives) Œuvre wird nächstes Jahr sieben Jahrzehnte umspannen und leitete von ­Balanchine in William Forsythes (Enemy in the Figure) revolutionäres Werk über.

Die Kanadierin Crystal Pite hat bei Forsythes Ballett Frankfurt getanzt. Ihre Tanztheaterarbeit Assembly Hall ist in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Jonathon Young entstanden und will mit ihrer reichlich exzentrischen Erzählung überzeugen. (Helmut Ploebst, 12.1.2024)