In der veröffentlichten Meinung herrscht überwiegend die Auffassung, das ins Aschgraue gestiegene Ansehen des zweiten Mannes im Staat wäre Christian Pilnacek zuzuschreiben. Das ist insofern nicht ganz präzise, als die Stimme aus dem Jenseits wohl noch heute eingeschreint im Handy eines an den Skandalen der Republik nur am Rande interessierten Restaurantbesuchers verharrte, hätte nicht Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz ein Lebenszeichen mit der Behauptung von sich gegeben, er habe mit Pilnacek noch am Abend vor dessen Tod telefoniert. Was von dieser Telefonseelsorge zu halten ist, ergibt sich aus den danach folgenden Ereignissen. Erst die Prahlsucht des Seelsorgers, der den Entseelten in seinem Kampf gegen die Staatsanwälte zu instrumentalisieren versuchte, hat den Mitschneider von Pilnaceks Leiden an der ÖVP drei Monate später bewogen, mit der Aufnahme an die Öffentlichkeit und damit türkiser Auffassung von Pietät entgegenzutreten.

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP)
Ein Gesprächsmitschnitt bringt ihn in Bedrängnis: Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP).
APA/ROLAND SCHLAGER

Kurz hat damit, ohne es zu wollen, dem Staat einen ersten Dienst und der von ihm geprägten Partei einen letzten Bärendienst erwiesen, also das Kapitel seiner Kanzlerschaft in angemessener Weise abgeschlossen, vorbehaltlich des Ausgangs der noch gegen ihn laufenden Verfahren. In der Geschichte der Österreichischen Volkspartei und ihrer Parteiobleute wird ihm das für immer einen besonderen Platz sichern, ist es doch nur ihm, der bereits mit einem Bein in René Benkos Milliardengrab steht, gelungen, den Präsidenten des Nationalrates mit in den Abgrund nationaler Pietätlosigkeit zu reißen. Dass er damit das Drehbuch für einen nächsten "Film: Der Kurz" liefert, kann den heimischen Cineasten nur freuen.

Aber wo der Geist des parlamentarischen Anstands schwach ist, dort triumphiert ein Sitzfleisch, gestählt in Jahren des Wirkens in der niederösterreichischen ÖVP und im Innenministerium, gehärtet für höhere Parteiaufgaben, wenn nicht gerade Korruption dazwischenkommt.

Aber wozu hätte man sich den Strapazen eines solchen Curriculums unterzogen, wenn man in einem Wahljahr, also in der Stunde höchster Gefahr, davor zurückschreckte, das Gelernte auch anzuwenden, indem man das Aussitzfleisch zu einem Vorsitzfleisch verfeinert, gestützt auf das Vertrauen eines Bundeskanzlers und Parteiobmannes, der aus derselben Schule kommt. Und auf die verfassungsmäßige Tatsache, dass ein Präsident des Nationalrates nur selbst moralische Maßstäbe an sich legen muss, um daraus eventuell die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Will er nicht, kann sich der Rest der Abgeordneten brausen, und eben das ist es, was Sobotka ihnen mit seinem Verhalten zu verstehen gibt.

Wer in einem seriös fundierten Verdacht steht, er wollte strafrechtliche Ermittlungen abgedreht sehen, sollte für keine politische Funktion infrage kommen, ganz besonders aber nicht für die eines Präsidenten des Nationalrates. Es ist nicht das erste Mal, dass in der Geschichte der Republik das Verächtliche am Verhalten der ÖVP dem Parlament gegenüber zutage tritt. Vom Bild eines Parlamentsauflösers in ihrem Klub hat sie sich nur schweren Herzens getrennt, und auch Kurz hat von seiner Abneigung gegen Auftritte vor dem Nationalrat kein Hehl gemacht. Doch gerade wenn ein "Volkskanzler" am "System" rüttelt, sollte Pietät nicht dem Sitzfleisch, sondern der Demokratie gelten. (Günter Traxler, 30.11.2023)