Die Zersplitterung der Parteienlandschaften geht einher mit dem Niedergang der "klassischen" Volksparteien, Christdemokraten und Sozialdemokraten. Aber auch die Liberalen und die Grünen schwächeln. Diese vier haben in Jahrzehnten das Projekt EU als wirtschaftlich wie politisch offenes Europa gebaut.
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So hatte sich Mark Rutte das nicht vorgestellt. Der liberale Langzeitpremierminister der Niederlande – neben Viktor Orbán der längstdienende Regierungschef in der EU – will Generalsekretär der Nato werden. Er würde den Norweger Jens Stoltenberg ablösen, der eigentlich schon längst abtreten will.

Aber es klappt nicht. Rutte muss vermutlich noch länger in Den Haag bleiben, eine Übergangsregierung führen. Nach den Wahlen, die er wegen eines Streits um die Verschärfung der Migrationspolitik vorzeitig ausgerufen hatte, bleibt in den Niederlanden kein Stein auf dem anderen. Zwei liberale Parteien verloren dramatisch. Nichts geht mehr.

Im Parlament mit 150 Sitzen teilen sich nicht weniger als 15 Parteien die Mandate. Klar stärkste Fraktion wurde die Freiheitspartei des islamfeindlichen und EU-skeptischen Geert Wilders, der früher den EU-Austritt des Gründerlandes verlangte. Er will an die Macht. Aber keiner will so richtig mit ihm.

Im ersten Schock wurde das im Land selbst und quer durch Europa als gefährlicher Rechtsruck gedeutet, ein Trend, der die liberal-humanitär orientierte Europäische Union gefährden könnte. Im Juni 2024 finden Europawahlen statt.

Neue regionale und sektorale Gruppen

Als Erstanalyse stimmt das auch. Und dennoch ist es nur ein Teil einer für Europa mittelfristig ungemütlichen Wahrheit. Neben Wilders’ Erfolg, der im EU-Parlament mit Frankreichs Le Penisten, der Lega aus Italien und der FPÖ die extrem rechte Fraktion "Freiheit und Demokratie" mitgegründet hatte, ging ein für die gemeinsame europäische Politik noch entscheidenderer Aspekt unter.

Nicht nur EU- und ausländerfeindlichen Rechtsparteien sind auf dem Vormarsch. Gleichzeitig werden neue regionale und sektorale Gruppen immer mehr und stärker, wie die Bauernprotestpartei BBB; oder neue Bewegungen wie die des Ex-Christdemokraten Pieter Omtzigt, die es von null auf 20 Mandate schaffte, relativ knapp hinter der rot-grünen Wahlplattform von Ex-EU-Kommissar Frans Timmermans. Die Niederlande sind exemplarisch.

Siehe Spanien: Dort hielt sich der sozialdemokratische Premier Pedro Sánchez nur an der Macht, weil radikale Linke ihm mit katalanischen und baskischen Separatisten die Mehrheit sichern. In Deutschland und Österreich reüssieren AfD und FPÖ. Aber: Sahra Wagenknecht und vielleicht auch bald die KPÖ zeigen, dass das auch von links geht.

Niedergang der "klassischen" Volksparteien

Der Effekt: Die Zersplitterung der Parteienlandschaften geht einher mit dem Niedergang der "klassischen" Volksparteien, Christdemokraten und Sozialdemokraten. Aber auch die Liberalen und die Grünen schwächeln. Diese vier haben in Jahrzehnten das Projekt EU als wirtschaftlich wie politisch offenes Europa gebaut. Nun reichen oft schon Drei-Parteien-Bündnisse zwischen ihnen nicht mehr aus, um eine stabile Regierung zu bilden, siehe die Ampel in Deutschland. Geht also auch in Europa bald nichts mehr, so wie in Den Haag?

Die radikal Rechten reiben sich schon die Hände. In Polen wurden sie dennoch von einer EU-freundlichen Plattform gestoppt. Auch Wilders muss erst noch beweisen, ob es ihm gelingt, ausreichend Partner für eine Regierung zu finden, so wie Giorgia Meloni in Italien.

Für Christdemokraten und Sozialdemokraten in Europa ist jedenfalls Feuer am Dach. Die Zeiten, in denen sie sich abwechselnd mit Liberalen mühelos an der Macht halten konnten, sind vorbei. (Thomas Mayer, 26.11.2023)