Für baldige Beitrittsgespräche mit der Ukraine und Moldau: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
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Seit dem Terroranschlag der Hamas im Süden Israels ist die Europäische Union mit gleich zwei heißen Kriegen in der unmittelbaren Nachbarschaft konfrontiert. Erwartungsgemäß hat die israelische Armee reagiert, in einem völkerrechtlich gebotenen, aber umstrittenen Akt der Selbstverteidigung.

In Gaza geht es jedoch nicht nur um die Ausschaltung der Terrororganisation Hamas. Es geht um viel mehr. Diese wollte mit dem Massaker den Friedensprozess torpedieren, die ganze Region zum Krieg gegen das einzige demokratische Land mobilisieren. Jetzt droht auch eine humanitäre Katastrophe.

Ein Krieg, den die meisten so nicht für möglich gehalten haben, Zerstörung und eine Flüchtlingswelle an der Ostflanke, das kennen die EU-Staaten auch vom "anderen Krieg nebenan". Seit zwanzig Monaten versucht Russland, sich die Ukraine einzuverleiben, mit brutalen militärischen Mitteln. Es gibt zigtausend Tote, Millionen Flüchtlinge. Die EU zahlte für Hilfen 50 Milliarden Euro.

An beiden Kriegsschauplätzen sticht aber auch ein immaterieller Aspekt ins Auge. Israel und die Ukraine sind, bei aller Kritik, Demokratien. Sie stehen für eine liberale Rechtsordnung und Freiheit. Beide wurden von Antidemokraten angegriffen, die sie als souveräne Staaten auslöschen wollen. Für die Europäische Union ist das indirekt eine Bedrohung, die schwerer wiegt als materielle Verluste. Sie versteht sich gemäß den EU-Verträgen als fester Anker bzw. Verteidiger einer Gesellschaftsordnung, die Demokratie, Grundrechte, Freiheit und Herrschaft des Rechts als fundamentale Prinzipien hochhält.

Innerer Integrationsprozess

Wer das nicht verteidigt und fördert, gibt sich selbst auf. Die Angriffe gegen Israel und die Ukraine führen uns vor Augen, wie rasch es damit vorbei sein kann, wenn man zaudert. Insofern war es richtig, dass die EU-Kommission ihren 27 Mitgliedern empfahl, mit der Ukraine und Moldau Beitrittsverhandlungen aufzunehmen; und zusätzliche sechs Milliarden Euro in den Erweiterungsprozess auf dem Westbalkan zu pumpen, um den inneren Integrationsprozess der sechs beitrittswilligen Länder zu festigen.

Die Aufgabe der militärischen Sicherung Europas hat seit 1949 die Nato übernommen. Die Erweiterung um Staaten, die sich ihren Werten verpflichtet fühlen und beitreten wollen, ist das klassische Instrument der EU, um Freiheit und Stabilität in Europa zu sichern.

Die Geschichte zeigt: Auch Griechenland, Spanien oder Portugal waren noch vor 50 Jahren Diktaturen, die über den EU-Beitritt einen langen Weg zu gefestigten Demokratien gegangen sind. Das Gleiche gilt für die ex-kommunistischen Staaten in Ost- und Ostmitteleuropa.

So gesehen wäre es jetzt hoch an der Zeit, diese Entwicklung auch auf dem Westbalkan engagierter voranzutreiben, von den Staaten dort mehr zu fordern, sie aber auch mehr zu fördern. Alle Staaten Ex-Jugoslawiens können EU-Mitglieder werden. Die EU muss dafür endlich auf kreative Weise ihre inneren Strukturen anpassen. Warum nicht über das Kerneuropakonzept?

Bei der Ukraine wird das angesichts der Herausforderungen noch viel länger dauern, das Ende des Krieges vorausgesetzt. Aber es hilft nichts: Die EU muss selbst das größte Interesse haben, die demokratiewilligen Nachbarn schrittweise zu integrieren. Rückfälle in den Krieg kommen schneller, als man denkt. (Thomas Mayer, 11.11.2023)