Erweiterung mit vielen einkalkulierten Leerstellen.
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Welchen Sinn hat es, mit einem sehr großen, aber wirtschaftlich derzeit allein nicht lebensfähigen Land mit 40 Millionen Einwohnern, das sich noch dazu in einem Krieg mit Russland befindet, Verhandlungen über einen EU-Beitritt aufzunehmen? Diese Frage drängt sich nach der entsprechenden Empfehlung der EU-Kommission nicht nur auf. Sie ist auch völlig legitim, wenn man davon ausgeht, dass die Politik der Gemeinschaft sich zwischen realen Verhältnissen und realistischen Zielen bewegen sollte. Idealistische Konzepte oder gar Traumtänzereien helfen am Ende niemandem.

Das Beispiel der verschleppten Erweiterung auf dem Westbalkan zeigt ganz anschaulich, worum es im Grunde geht, was die Problematik ist: Die Beitrittsprozesse dürfen nicht zum Selbstzweck werden. Sie müssen Ergebnisse bringen.

Die vier Balkankriege wurden vor gut zwanzig Jahren mit einem Nato-Einsatz im Kosovo beendet. Seither bemühten sich acht Staaten um ihre Einbindung in die EU. Aber nur zwei Ländern ist das mit einer Mitgliedschaft gelungen – Slowenien 2004 und dann Kroatien 2011. Die verbleibenden sechs Staaten sind nach wie vor weit weg vom Beitritt, wie der Bericht der Kommission nun zeigt. Sie werden ständig von Krisen geschüttelt, aber zumindest gibt es keine Kriege mehr. Slowenien und Kroatien haben sich ganz gut entwickelt.

Realistische Ziele

Vom Westbalkan lernen – und auch vom Negativbeispiel Türkei – hieße also (wie im Grunde bei allen früheren Aufnahmewellen für neue Mitglieder), dass man sich realistische Ziele steckt; schon bei der Eröffnung der mehr als dreißig Verhandlungskapitel muss zumindest einigermaßen greifbar sein, wann man abschließen kann; wie die Heranführung des Kandidatenlands an die hohen Standards der Europäischen Union ablaufen kann, wirtschaftlich und rechtsstaatlich ebenso wie sozial und gesellschaftlich. Sonst sind Frust und ständige Rückschläge vorprogrammiert.

Was nun die Ukraine betrifft, gibt es keinen Experten, der es für machbar hält, das Land in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren zum "Vollmitglied" zu machen. Das glaubt auch in der Kommission in Brüssel niemand. Noch dazu ist nicht einmal klar, ob der Krieg mit Russland nicht zu einem "eingefrorenen Konflikt" auf viele Jahre wird.

Aber schon in Friedenszeiten wäre ein rascher Beitritt, wie ihn sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erhofft, illusorisch. Nur ein einziges Beispiel zeigt das: Die Gemeinsame Agrarpolitik bildet nach wie vor einen der Grundpfeiler der Union. Noch immer fließt beinahe ein Drittel des gesamten regulären EU-Budgets in diesen Sektor bzw. wird das Geld im Ausgleich an die Bauern der Mitgliedsländer direkt ausgeschüttet.

Neue Regeln

Das riesige Flächenland Ukraine war vor dem Krieg einer der größten Produzenten von Agrarprodukten auf der Welt, noch dazu mit niedrigen Preisen. Sie rasch zu integrieren würde daher den budgetären und regulatorischen Rahmen schlicht sprengen. Die Regeln für alle (derzeit 27) müssten neu geschrieben werden. Solch ein Umbau dauert mit Übergangszeiten eher Jahrzehnte als Jahre. Kein Wunder, wenn große EU-Agrarländer wie Polen und Frankreich da skeptisch sind.

Auf den ersten Blick und in der Logik der bisherigen EU-Erweiterungspolitik hätte also sehr viel dafür gesprochen, mit dem Start der Beitrittsverhandlungen noch länger zuzuwarten. Nach den Kopenhagener Kriterien aus den 1990er-Jahren muss ein Kandidat rechtsstaatlich und demokratisch stabil sein, in der Lage, den gesamten Rechtsbestand der Union umzusetzen, um Mitglied zu werden. Er muss eine Marktwirtschaft haben, die unter dem Konkurrenzdruck im Binnenmarkt bestehen kann. Ein EU-Kandidat muss politisch und institutionell gefestigt sein.

Davon kann keine Rede sein. Die EU muss der Ukraine Monat für Monat eine Finanzhilfe von 1,5 Milliarden Euro überweisen, damit der Staat überhaupt funktioniert, Pensionen und Gehälter zahlen kann. Hunderte Millionen für Waffen sind da noch gar nicht eingerechnet. Bis 2027 plant die EU-Kommission 50 Milliarden Euro an "ziviler" Hilfe.

Reformschritte einfordern

Und dennoch – oder gerade deswegen – war es eine richtige Entscheidung der Kommission, den Staats- und Regierungschefs den baldigen Beginn von Beitrittsverhandlungen zu empfehlen und das gleichzeitig mit der Forderung an die Regierung in Kiew zu verbinden, dafür weitere Reformfortschritte vorzunehmen.

Beitrittsverhandlungen im 21. Jahrhundert, in Zeiten heißer Kriege nicht nur in der Ukraine, sondern nun auch in Nahost, haben einen ganz anderen Charakter als vor 25 Jahren. Es geht nicht nur darum, neue Mitglieder in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, den Binnenmarkt, aufzunehmen wie früher. Sie folgen auch der Notwendigkeit, strategische außen- und sicherheitspolitische Ziele der Europäischen Union als Ganzes umzusetzen.

Es geht nicht bloß darum, dass die Ukraine eine "Chance" bekommt, zur westlichen Welt und liberalen Demokratien aufzuschließen. Es geht mindestens ebenso dringend darum, dass die EU das wichtige Nachbarland in Osteuropa nicht an Russland verliert. Das gilt ähnlich auch für Moldau und Georgien.

Umgekehrt denken

Man muss den Beitrittswunsch aus Kiew daher auch umgekehrt denken. Die EU muss sich den Beitritt der Ukraine wünschen und dafür in Vorleistung gehen. Würde die Ukraine von Europa nicht mit aller Kraft unterstützt werden und in der Folge den Krieg gegen Russland verlieren, würde es also vom russischen Imperium unter dem Autokraten Wladimir Putin einverleibt, so wäre das ein massives Problem, eine ernste Bedrohung für die gesamte EU, insbesondere in Mittel- und Osteuropa.

Die Empfehlung zu Beitrittsverhandlungen durch die EU-Kommission ist daher eine zutiefst politische Entscheidung, nicht nur eine der Erfüllung von wirtschaftlichen und formalen Kriterien. Als solche ist sie richtig, und die 27 Mitgliedsländer sollten den Beitrittsprozess starten. Allerdings im Bewusstsein, dass es ein langer Prozess ist, in dem beide Seiten noch viele Jahre lang große Anstrengungen unternehmen müssen. (Thomas Mayer, 8.11.2023)