Brüssel nach dem Terroranschlag
Zwei Schweden sind am Montagabend in Brüssel erschossen worden.
REUTERS/Yves Herman

Nach dem Terrorakt eines polizeibekannten Tunesiers in Brüssel stellen sich Bürgerinnen und Bürger quer über den Kontinent bange Fragen: Steht in ganz Europa eine neue Welle der Bedrohung durch radikale Muslime bevor wie 2015 nach den monströsen Attentaten in Paris? Wieso sind Sicherheitsbehörden nicht in der Lage, solche Anschläge im Vorfeld zu verhindern?

Und politisch: Führt es zu noch mehr Polarisierung in unseren Gesellschaften, zu weiterem Erstarken radikaler Parteien, zu Einschränkungen der Freiheit?

Erst vergangene Woche war es im französischen Arras, nur hundert Kilometer von der belgischen Hauptstadt entfernt, in einem Gymnasium zu einem Messermord gekommen. Wie der Brüsseler Attentäter, der nach abgelehntem Asylantrag illegal in Belgien lebte, war auch dieser Täter, ein Student inguschischer Herkunft, als gefährlich eingestuft, weil er mit dem radikalen Islam sympathisierte. Der Geheimdienst hatte ihn sogar als "Gefährder" im Visier.

Allein schon wegen zeitlicher Nähe zum pogromartigen Terror der Hamas gegen Israel und des Versuchs von israelischer Regierung und Armee, diese mörderische Organisation zu zerschlagen, ziehen viele den Schluss, die Attentate in europäischen Städten müssten unmittelbare Folge des Konflikts in Nahost sein. Nach allem, was man bisher weiß, sollte man vorsichtig sein mit solchen Schnellschüssen. Mag sein, dass die Täter durch Gaza bestärkt wurden.

Die eigentliche Motivation beider hat aber Hintergründe, die in Europa bzw. in ihren Gastländern zu finden sind. Der Tunesier hat offenbar ganz gezielt schwedische Fußballfans ausgesucht, um die Koranverbrennungen in Schweden zu "rächen". Der Student in Arras war frustriert, weil sein Vater vor mehr als einem Jahrzehnt aus Frankreich ausgewiesen wurde und sein radikaler Bruder ins Gefängnis gekommen war.

Was lief falsch?

Ihre Mordanschläge mit der Unterdrückung der Palästinenser zu erklären oder gar zu rechtfertigen, wie das manche nun tun, ist ein Fehler.

Spätestens seit den Terrorakten in Paris und Brüssel 2015 und 2016, bei denen die meisten Täter belgische und französische Staatsbürger waren, müssen Regierungen der EU-Staaten und auch die Gesellschaften sich fragen, was bei uns falsch lief. Das braucht Offenheit. Auch die Einsicht, dass viele Probleme mit Fehlern bei irregulärer Migration und Integration zusammenhängen.

Wir haben es mit Leuten zu tun, die teils lange in Europa lebten, die liberale Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit ablehnen, die "das westliche Lebensmodell" zerstören wollen. Sie versuchen, mit Angst und Schrecken zu destabilisieren, missbrauchen dabei die Religion. Der Hass auf die Juden, das Schüren des Antisemitismus feuern sie an.

Wie kann man dem begegnen, ohne selbst liberale Grundwerte aufzugeben? In jedem Fall braucht es Entschlossenheit seitens der Politik wie der Zivilgesellschaft. Es ist eine Illusion zu glauben, mit immer engerer Polizeiarbeit in Europa allein könne man den Kampf gegen radikale Staatsfeinde gewinnen.

Noch wichtiger ist es, als Gesellschaft das Wegschauen zu beenden, wenn radikale Gruppen zu Gewalt aufrufen, sie sogar verherrlichen. Dagegen sollte es große Demonstrationen, breite Koalitionen geben, die Terroristen und Mördern zeigen, dass für sie Nulltoleranz gilt. Angst wäre ein schlechter Ratgeber. (Thomas Mayer, 17.10.2023)