Gehen wir einmal davon aus, dass ein Fahrrad einfach nur ein Fahrrad ist, ein simpler Gebrauchsgegenstand. Etwas, das von seiner Besitzerin oder seinem Eigner durchaus emotional besetzt oder aufgeladen sein kann, bei dem aber dennoch und grundsätzlich außer Frage steht, dass es unbelebt und unbeseelt ist – und daher auch weder Bewusstsein, Identität, Geschlecht oder sexuelle Präferenzen hat: Einem Fahrrad dürfte es egal sein, ob sich die Person, die es wartet, repariert oder serviciert, als Mann, Frau oder sonst wie fühlt oder definiert.

Ana Powdrill, Mischa Ehrne, Jovina Unterberger
Jovina Unterberger, Ana Powdrill und Mischa Ehrne haben wegen ihres Hobbys den Beruf gewechselt. Die leidenschaftlichen Bike-Polo-Spielerinnen wollten ihre Räder nicht mehr von patriarchalen Männern reparieren lassen und eröffneten in Wien-Alsergrund ihre eigene Werkstatt, in der die drei mit allen Kundinnen und Kunden auf Augenhöhe kommunizieren.
Regine Hendrich

Gut, da wäre Flann O'Briens legendäre "Fahrradunschärfetheorie". Verknappt ausgedrückt, besagt sie: Weil Elektronen von Atom zu Atom wandern, verschwimmt über die Jahre die klare Trennbarkeit der Körper des Rades und dessen Fahrerin oder Fahrer. Im klerikal-irischen Umfeld wirft dies – in O'Briens Buch Der dritte Polizist – schwere moralische Probleme auf, sobald mehrere Menschen ein Rad berühren oder benutzen.

Schnurren statt quietschen

Tatsächlich dürfte es heute aber nicht nur dem Rad, sondern auch jeder Person, so sie halbwegs bei Trost ist, Blunzen sein, ob ihr Rad von Frau, Mann, Trans-Person oder sonst wem in Schuss gebracht wurde: Rollt und schnurrt das Ding, ist alles gut – quietscht und bockt es, war das Service schlecht.

So gesehen und auf den ersten Blick mutet es absurd an, wenn sich eine Fahrradwerkstatt im Gender-, Geschlechts-, Pronomina- und Identitätsdiskurs positioniert. Und zwar als Flinta-Radwerkstatt. Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen, die im LGBTQ-plus-Lingo nicht firm sind, mit "Flinta" nichts anfangen können. Das Akronym steht für "Frauen, Lesben, intersexuelle, nichtbinäre, Trans- und Agender-Personen" – also für "all jene, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität patriarchal diskriminiert werden" (Zitat: Tagesspiegel) oder die sich so fühlen.

Fahrradwerkzeug
Nicht in allen Bereichen unterscheidet sich diese Fahrradwerkstatt von anderen.
Regine Hendrich

Also kann man in der Spitalgasse auf dem Wiener Alsergrund vor der Velopeaches-Auslage zweierlei tun: "Lauter Narren" (ungegendert) denken – und weitergehen. Oder aber man riskiert einen zweiten Blick, geht in den 2021 eröffneten Laden, bestaunt das an die Shop-Wand gemalte zwei Stockwerke hohe Fahrradgemälde, lernt, dass diese Wandmalerei die Geschichte der drei "Peaches" erzählt – und stellt im gleichen Atemzug fest, dass das Geschäft funktioniert wie jede andere Rad-Schrauberei. Aber was hat das mit Flinta zu tun?

"Fragen hilft", sagen Jovina Unterberger, Ana Powdrill und Mischa Ehrne. Und höflich fragen ist immer okay. Dann erzählen die drei sehr gerne ihre Geschichte.

Vom Polo zur Werkstatt

Die drei Frühdreißiger spielen leidenschaftlich Bike-Polo. Also Polo auf dem Rad statt dem Pony. Diese Nische ist winzig. Viele Teams gibt es nicht – also spielt man auch gemischt. Und Polo-Bikes brauchen wegen der Feind- und Spieleinwirkungen ständig Reparaturen: Wer Bike-Polo spielt, muss schrauben können, kennt aber auch die lokale Radmechanikerszene bald recht gut.

Was jetzt kommt, kennt auch das normale Publikum: (Fahrrad-)Mechanikern (bewusst nicht gegendert) eilt oft der Ruf voraus, in einer klassischen Technikwelt von vorgestern zu leben. In einer Männerwelt der öligen Hände und Hosen und der archaischen Werkzeuge. Einer Welt, in der herablassende Blicke, genervte Augenaufschläge bei unkundigen Fragen und unwillig-grantiges Nichterklären Standard sind. Egal, wie Mechaniker das selbst sehen: Es geht ausschließlich um die Wahrnehmung von außen.

Ein großes Wandgemälde mit Bike-Polo-Spielerinnen.
Das riesige Gemälde auf einer Wand des Shops zeigt Bike-Polo, die große Leidenschaft der drei Velopeaches. Vor wenigen Jahren war dieses Lokal noch ein Geschäft eines angesehenen Optikers.
Regine Hendrich

Die drei Peaches fühlten sich in dieser Umgebung oft unwohl. So lag die Idee der Flinta-Werkstatt nahe, die sich nicht nur über die Qualität der Arbeit, sondern auch über das Behandeln aller Kundinnen und Kunden auf Augenhöhe definiert.

Dennoch waren die Bike-Polo-Flintas ein bisserl überrascht, wie rasch sich ihr Laden auch mit Aufträgen aus der gutbürgerlichen Umgebung füllte. Das zeige auch einen sonst kaum thematisierten Aspekt. Nämlich den, "wie egal es vielen Leuten heute ist, wie sich eine Person definiert oder wie sie lebt," sagt die aus der Multi-Media-Kunstszene zum professionellen Rad-Schrauben gewechselte Jovina Unterberger. Und die britischstämmige Ana Powdrill, die aus Novi Sad und Graz Bikeshop-Erfahrung auf den Alsergrund brachte, schmunzelt, "dass am Ende des Tages das Freizeitverhalten so mancher älteren Dame meinem gar nicht so unähnlich ist." Woher sie das weiß? Mischa Ehrne, eigentlich Landschaftsarchitektin, zeigt auf die Kaffeemaschine im hinteren Bereich des Ladens: "Es geht nie nur ums Reparieren."

Zu wenig Werkstätten

Aber hauptsächlich schon. 90 Prozent des Umsatzes machen die Peaches mit Service- und Reparaturarbeiten. Dazu käme der Verkauf von Klein- und anderen Teilen. Neuräder sind kaum ein Thema, viel eher werden Kellerbikes restauriert oder individuell neu aufgebaut. Wenn die Zeit es erlaubt.

Ein Blick in die Werkstatt der Velopeaches.
Ein Blick in die Werkstatt der Velopeaches.
Regine Hendrich

Obwohl die Zahl der Radwerkstätten in Wien in den vergangenen zwei Jahren um fast 50 Prozent gestiegen ist, gibt es immer noch zu wenige Betriebe, die sich rasch und verlässlich um vermeintlich banale Probleme kümmern: Bremsen oder Schaltung einstellen, Kette wechseln, Laufräder zentrieren etwa. Auch Reifenwechseln zählt dazu.

Deshalb werden die drei Rad-Autodidakten, die das Schrauben längst auch amtlich anerkannt beherrschen, mitunter ihrem eigenen "Für alle offen"-Anspruch nicht ganz gerecht: Der "Ohne Voranmeldung keine Fahrradannahme"-Zettel hängt oft an der Eingangstür. Kapazitätsbedingt. Aber er gilt für alle – egal ob Flinta oder nicht. (Tom Rottenberg, 10.10.2023)