Ursula von der Leyen hat in ihrer vierten Rede zur Lage der Europäischen Union keine neuen oder gar spektakulären Vorschläge gemacht. Wer sich von der Präsidentin der EU-Kommission einfache "Wunderlösungen" zur Bewältigung der wirtschaftlichen Krise oder im Ukrainekrieg erwartete, dürfte enttäuscht sein.

Das liegt aber weniger an ihr und der Fantasielosigkeit ihres Teams in der Zentralbehörde in Brüssel – es liegt in der Natur der Sache: Es gibt schlicht keine simplen Rezepte, um die existenziellen Herausforderungen unserer Zeit und das Überleben des Planeten zu meistern.

Ursula von der Leyen vor der EU-Flagge.
Ursula von der Leyen verspricht nicht das Blaue vom Himmel – genau das macht sie so glaubwürdig.
EPA/JULIEN WARNAND

Krieg, Klimawandel, Energiewende, Inflation, Wirtschaftsabschwung, Migration, Digitalisierung und so weiter – jedes dieser Themen würde für sich allein gewaltige gemeinsame politische und gesellschaftliche Anstrengungen erfordern. Die Union, ein in sich schon sehr komplexes Gebilde von 27 Staaten, ist nun aber damit konfrontiert, dass all diese Probleme gleichzeitig und miteinander verwoben eintraten. Sie nachhaltig zu lösen oder auch nur zu verbessern bedarf also eines ebenso komplexen, präzisen, vernünftigen und vor allem untereinander eng abgestimmten Vorgehens. Die Kommission und die Regierungen der EU-Länder müssen enger zusammenrücken, um Erfolge zu erzielen. Tun sie das nicht, werden sie und wir alle gemeinsam scheitern.

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AFP

Genau das hat von der Leyen, wie schon in den Jahren zuvor, in einer langen programmatischen Ansprache an die Abgeordneten im Europäischen Parlament und die Bürgerinnen und Bürger zu Hause in vielen Details und Beispielen dargestellt. Manchem mag das zu detailverliebt sein. Mancher mag der "große Wurf" gefehlt haben. Zu langweilig.

Schritt für Schritt

Aber im Grunde ist genau das die große Stärke dieser Präsidentin in ihrer bisherigen Amtszeit: Sie verspricht nicht das Blaue vom Himmel wie so viele Populisten von rechts und links, die den Menschen einreden, es wäre alles doch ganz einfach zu lösen. Von der Leyen ist mehr Arbeiterin als Visionärin: zäh im Vorgehen, Schritt für Schritt.

Man denke nur an das genaue Gegenteil ihres Regierungsstils, an den früheren US-Präsidenten Donald Trump: laut, unsachlich, ein Blender und Lügner. Wenn man diesen Unterschied vor Augen hat, lässt sich leicht erkennen, was wir am europäischen Weg der politischen Vernunft haben.

Das ist besonders wichtig, weil im nächsten Jahr Europawahlen stattfinden, die zu weiterer politischer Radikalisierung, zum Erstarken der Rechtsextremen und Nationalisten führen könnten – keine gute Entwicklung. Auch darauf hat die Präsidentin mit ihrer programmatischen Rede indirekt eine klare Antwort gegeben. Die großen Ziele, die Programme, die in eine gute Zukunft führen sollen, liegen alle auf dem Tisch. Der "Green Deal" zum umweltgerechten Umbau unserer Wirtschaftswelt ist der Kern. Daran angelehnt sind gewaltige Investitionsprogramme für Energiewende und Digitalisierung. Die EU-Erweiterung könnte im Grunde über die Bühne gehen, um Demokratie und Rechtsstaat auf dem Kontinent weiter zu verbreiten und zu stärken – von der Leyen will das beschleunigen.

Aber es mangelt an allen Ecken und Enden an der Umsetzung, am Mut in den Regierungszentralen, wohl auch an der Bewusstseinsbildung, wie nötig das ist. Der Krieg in der Ukraine könnte dazu beigetragen haben, zu erkennen, dass da eine Änderung überfällig ist. Die Union, ihre Staaten, ihre Bürgerinnen müssen quasi durchstarten.

Europa darf keine "lame duck" werden

Auch wenn von der Leyen es vermied, zu sagen, ob sie 2024 auch die nächste Kommission führen will und sie wieder antritt, scheint das klar zu sein. Sie hat in der Rede mehrmals betont, dass ihre Arbeit und ihr Programm noch nicht abgeschlossen sind, mit starkem Willen weitergetrieben werden müssen, weil "die Geschichte" uns dazu aufrufe, wenn Europa in der neuen globalen Wirklichkeit nicht untergehen wolle.

Es wäre auch seltsam, wenn die Deutsche nicht eine zweite Amtszeit absolvieren würde. Das würde bedeuten, dass die EU ab dem Start des Europawahlkampfs im Frühjahr 2024 bis Jahresende eingeschränkt handlungsfähig wäre, eine "lame duck". Das können wir uns in Europa nicht leisten. Allein schon wegen Russlands Krieg gegen die Ukraine und Europa muss Ursula von der Leyen die Stellung halten. (Thomas Mayer, 13.9.2023)