Ohne Dach und Wasser wurden Menschen laut Berichten jüngst von tunesischen Behörden in die Wüste geschickt.
Ohne Dach und Wasser wurden Menschen laut Berichten jüngst von tunesischen Behörden in die Wüste geschickt.
AFP/MAHMUD TURKIA

Während in Brüssel weiter um die Reform des EU-Asylsystems gerungen wird, macht die EU mit ihrer Annäherung an Tunesien zur Migrationsbekämpfung Ernst: Am Sonntag unterzeichnete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem autokratischen Machthaber Kais Saied in Tunis eine Absichtserklärung für ein "strategisches Partnerschaftsabkommen" – in erster Linie, um die irreguläre Migration nach Europa einzudämmen. Das ist angesichts tunesischer Methoden beim Migrationsmanagement alles andere als unumstritten. 

Video: Libysche Grenzschützer haben mindestens 80 gestrandete Migranten gerettet.
AFP

Frage: Was wurde mit Tunesien vereinbart?

Antwort: Die EU spricht von Plänen für ein umfassendes Abkommen in den Bereichen Migration, Handel, Energiewende und Wirtschaft, das auf Reformen und eine Verbesserung der Lebenssituation in Tunesien abzielt. In der Absichtserklärung enthalten sind aber vor allem Grundzüge von Maßnahmen zur Eindämmung der irregulären Migration über das Mittelmeer – vor allem nach Italien – und zur Bekämpfung von Schlepperbanden.

Frage: Was sieht die Absichtserklärung konkret vor?

Antwort: Bisher sind viele Details noch unklar. In Tunis gab es bei der Verkündung – wie Journalisten vor Ort mit Verweis auf den autokratischen Führungsstil von Kais Saied kritisch anmerkten – keine Pressekonferenz. Erst am Montag gab es dazu in Brüssel ein Briefing. Dort hieß es, das Abkommen müsse erst ausgearbeitet werden, so wie 2016 das EU-Abkommen mit der Türkei. Dazu gehört auch die Verbesserung der legalen Einreise nach Europa und ein Visaregime für hunderte Studierende in Deutschland, Frankreich und Belgien. In seinen Grundzügen ist die Absicht des Abkommens jedoch klar: Tunesien bekommt Geld dafür, dass es seine Grenzkontrollen verstärkt und auch abgeschobene Tunesier aus der EU zurücknimmt.

Frage: Was bekommt Tunesien dafür?

Antwort: Für 2023 sind zunächst 105 Millionen Euro zur "Umsetzung des Migrationspakets" vorgesehen – das entspricht einer Verdoppelung der bisherigen Zahlungen. Zudem gibt es 150 Millionen Euro an direkten Budgethilfen für "sinnvolle Reformen" in Tunesien, etwa für den Ausbau der Elektrizität. Damit wird die bisherige Kooperation mit dem nordafrikanischen Land, mit dem die EU ein Assoziationsabkommen hat, nun aufgebessert. Die EU hat bisher zum Beispiel 17 Patrouillenboote, Jeeps, Polizei und Grenzschutz mitfinanziert.

Frage: Um wie viel Geld geht es insgesamt?

Antwort: Insgesamt sprach die Kommission am Montag von bis zu einer Milliarde Euro in den kommenden Jahren. Details dazu wurden ausgespart. Doch vor gut einem Monat war von der Leyen, ebenfalls in Begleitung von Italiens Premierministerin Giorgia Meloni und dem niederländischen Noch-Premier Mark Rutte, bereits zu Gesprächen in Tunesien, um den nun verkündeten Deal auszuhandeln. Damals war von 900 Millionen in EU-Makrofinanzhilfe die Rede – also von Darlehen zu günstigen Konditionen und niedrigen Zinssätzen. Dafür müsste Tunesien aber ein Finanzierungsprogramm mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) unterzeichnen, was Saied bisher verweigert hat.

Frage: Wie kann sichergestellt werden, dass Tunesien das Geld für die vereinbarten Maßnahmen verwendet und es nicht "versickert"?

Antwort: Die Kommission wird keine Blankoschecks übergeben, wie in Brüssel betont wird, sondern nur bei konkreten, überprüfbaren Projekten soll Geld fließen. Im Herbst soll dies im EU-Tunesien-Assoziationsrat besprochen und beschlossen werden. Grundsätzlich gehe es darum, die laufende Zusammenarbeit ab sofort zu beschleunigen, wie ein hochrangiger Vertreter der Kommission sagte.

Frage: Warum steht Tunesien derzeit im Fokus?

Antwort: Tunesien ist derzeit eines der wichtigsten Transitländer für Migrantinnen und Migranten auf dem Weg nach Europa. Allein bis Freitag zählte das Innenministerium in Rom heuer bereits mehr als 75.000 Bootsmigranten, die seit Jahresbeginn an Italiens Küsten ankamen – im Vorjahreszeitraum waren es rund 31.900. Zugleich steckt auch Tunesien selbst in einer wirtschaftlichen Krise. Deshalb ergreifen immer mehr Tunesier aus finanzieller Not die Flucht. 

Frage: Wieso haben die Zahlen der über das Meer gekommenen Menschen nach Italien zwischendurch immer wieder stark abgenommen?

Antwort: Das liege vor allem an den Wetterbedingungen, heißt es in der Kommission, weniger am Vorgehen der tunesischen Behörden.

Frage: Warum ist die Zusammenarbeit mit Tunesien umstritten?

Antwort: In den vergangenen Tagen gab es Berichte von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, wonach der tunesische Grenzschutz Menschen ohne Wasser und Dach in die Wüste schickt. Das ist nur die jüngste bedenkliche Meldung zur Lage von Migranten in Tunesien, seit Präsident Kais Saied vor rund zwei Jahren die Macht an sich gerissen hat, indem er Parlament und Regierung auflöste und seither per Dekret zunehmend autoritär regiert. In Tunesien gibt es seit Jahren große subsaharische Communities. Es handelt sich hierbei oft um Arbeitsmigranten, die sich langfristig in Tunesien niedergelassen haben und mit ihren Einkünften Familien in der Heimat unterstützen. Doch seit Saied regiert, ist es für sie in Tunesien immer gefährlicher geworden. Ganz nach dem Vorbild europäischer Rechtsradikaler sprach er im März von einer gesteuerten "ethnischen Umvolkung", was inmitten der angespannten ökonomischen Lage rassistische Ressentiments anfeuerte und zu etlichen dokumentierten Gewaltübergriffen auf Schwarze führte. Seither entscheiden sich auch immer mehr in Tunesien ansässige Migranten aus Subsahara-Afrika aus Sicherheitsgründen für eine Auswanderung in die Heimat oder nach Europa.

Frage: Wie geht es weiter?

Antwort: Trotz Kritik an Saied will die EU die Partnerschaft verstärken. Meloni hat für kommenden Sonntag zu einer Migrationskonferenz nach Rom eingeladen, wo auch der tunesische Präsident zu Gast sein wird. (Flora Mory, Thomas Mayer aus Brüssel, 17.7.2023)