Sebastian Borger aus London

Noch ist der Traum von der eigenen Unabhängigkeit von London in weiter Ferne, da sieht sich die schottische Regierung bereits mit dem möglichen Zerfall ihres Territoriums konfrontiert: Frustriert von jahrelanger Vernachlässigung hat an diesem Dienstag das Kommunalparlament der Orkney-Inseln über die Forderung einer Statusänderung beraten. Zu den "alternativen Regierungsmöglichkeiten" zählen die eigene Unabhängigkeit, die Deklarierung als "Überseeterritorium" der britischen Krone sowie der Übertritt zum Königreich Norwegen. "Wir schauen mit Neid darauf, wie man sich in Norwegen um isolierte ländliche Gebiete kümmert", sagte Gemeindevorsteher James Stockan der BBC.

Orkney-Inseln Schottland
Die Orkney-Inseln wollen nicht mehr zu Schottland gehören.
REUTERS/Nigel Roddis

Mag das windumtoste Archipel von rund 70 Inselchen, darunter 20 bewohnte, auch nur rund 15 Kilometer vor der Nordspitze der britischen Insel liegen – kein Besucher der malerischen Hauptstadt Kirkwall entgeht dem Hinweis, dass von den Orkneys aus die Distanz nach Oslo deutlich geringer ist als nach London. Zudem gibt es eine ernstzunehmende historische Verbindung nach Skandinavien: Bis 1472 war die Inselgruppe nämlich Teil des damaligen Königreichs der Dänen, Norweger und Schweden. "Wir gehörten zum nordischen Königreich viel länger als zum Vereinigten Königreich", sagt Hobbyhistoriker Stockan.

Rechenspiele

Das könnte insofern stimmen, als es das Vereinigte Königreich von England und Schottland erst seit lächerlichen 316 Jahren gibt. Rechnet man aber die Zugehörigkeit zum Königreich Schottland dazu, kommen stolze 551 Jahre zusammen – sehr viel mehr haben die Skandinavier auch nicht zu bieten, liegen doch die genauen Ursprünge ihrer Herrschaft in grauer Vorzeit.

Sehr vergnüglich kann die Machtübernahme durch die Wikinger aus Dänemark und Norwegen im 9. Jahrhundert für die damalige einheimische Bevölkerung nicht gewesen sein. Jedenfalls gibt es von den Pikten-Stämmen Nordschottlands nach dieser Zeit keine Spur mehr. Auf den Orkney- ebenso wie auf den weiter nördlich gelegenen Shetland-Inseln wurden sie "politisch, sprachlich, kulturell und sozial überwältigt", wie der Historiker Frederick Wainwright den Genozid einst vornehm umschrieb.

Da schriftliche Quellen kaum vorliegen und auch die Archäologen weitgehend im Dunkeln tappen, haben erst in jüngster Zeit genetische Studien die Forschung vorangebracht – und damit das blutrünstige Image der Wikinger ein wenig zurechtgerückt. Auf den Orkneys und Shetlands war nämlich etwa die Hälfte der Ankömmlinge Frauen, wohingegen auf den Inseln vor der schottischen Westküste männliche Gene norwegischer Herkunft überwogen. Während also die bei gutem Wind in zwei Tagen erreichbaren Inseln von Familien besiedelt wurden, waren die weiter entfernten Ziele tendenziell eher (männlichen) Kriegern vorbehalten.

Ärger über alte Fähren

So weit die Geschichte. Eigentlich aber wollen die Orcadians ja in die Zukunft schauen und teilhaben am Boom erneuerbarer Energien wie Wind und Gezeitenkraft. "Großes Potenzial" bescheinigt Stockan seiner Heimat. Wenn nur die Transportprobleme nicht wären! Dringend erneuerungsbedürftig seien die Fähren, die zwischen den Inseln sowie den Festlandhäfen von Scrabster und Aberdeen verkehren. Während aber die der Westküste Schottlands vorgelagerten Inseln längst neue Fähren erhalten hätten, müssten sich die Orkney-Insulaner weiterhin mit alten Kähnen begnügen, ärgert sich der Gemeindevorsteher.

Beim Stichwort "Fähren" zieht die Edinburgher Regierung unter Nationalistenchef Humza Yousaf die Köpfe ein, schließlich fiel eine Fährenaffäre in Yousafs Amtszeit als Verkehrsstaatssekretär. Mit dem Bau neuer Fähren wurde eine Firma ohne einschlägige Erfahrung beauftragt; der entsprechende Prüfbericht spricht von einem Millionenverlust. Dass die Orcadians den schottischen Nationalisten die Gefolgschaft verweigern und stattdessen hartnäckig den Liberaldemokraten Alistair Carmichael ins Unterhaus entsenden, trägt zu ihrer Popularität bei der Edinburgher Regierungspartei auch nicht gerade bei.

Schwieriges Unterfangen

Gute Regierungen, da wird der Gemeindevorsteher beinahe philosophisch, erkenne man daran, "wie sie ihre Peripherie und die besonders Benachteiligten behandeln". Und Stockan lässt keinen Zweifel daran, dass er die Regierenden in Edinburgh und London für, vorsichtig ausgedrückt, verbesserungsfähig hält. Also die Abspaltung vom Vereinigten Königreich und reumütige Rückkehr unter Oslos Fittiche? Das gehe ja nicht ganz so schnell, bremst Holger Hestermayer, Völkerrechtsprofessor am Londoner King's College, auf Twitter: "Man kann sich nicht einfach einem anderen Land anschließen."

Ohnehin beschloss der Gemeinderat in Kirkwall am Dienstag mehrheitlich erst einmal nur, mögliche Optionen zu prüfen. Auch als "Kronabhängigkeit" (crown dependency) wie die Kanalinselns Jersey und Guernsey oder "Überseeterritorium" Großbritanniens wie Gibraltar und die Falkland-Inseln (Malvinas) ließe es sich ganz gut leben. Geschafft hat Stockans Medienoffensive jedenfalls schon mal eines: Die Orkneys erfreuen sich plötzlich deutlich größerer Aufmerksamkeit. (Sebastian Borger, 4.7.2023)