Robert Seeger ahnt nicht, was ihn erwartet. Er sitzt am 22. Juni 1986 im Aztekenstadion in Mexiko-Stadt und begrüßt die ORF-Zuschauer zum WM-Viertelfinale zwischen Argentinien und England. Bei ihm ist es kurz vor 12.00 Uhr, in Österreich acht Stunden später. Der Kommentator stellt den Schiedsrichter Ali Bin Nasser vor, und als die Teams das Feld betreten, verliest er die Aufstellungen: "Beide Mannschaften im Prinzip nur minimal verändert, oder sagen wir so: etwas abweichend von ihrer stärksten Besetzung."
Seegers Schachtelsätze bringen Erinnerungen an seine zahlreichen Live-Spiele zurück. Der Blick auf die Übertragung von damals zeigt aber auch, wie über das Spiel gesprochen wurde, bevor es zum Mythos wurde. Und wie dennoch manchen Kommentatoren sofort klar war, dass hier etwas Historisches passiert.
Im Abseits Gottes?
Seeger bleibt zu Beginn der Partie sachlich. Er hebt die Stimme kaum, meistens beschränkt er sich darauf, den Namen des ballführenden Spielers zu nennen. Mit Fortgang der ersten Halbzeit zeigt er sich aber zunehmend verärgert: "Bald ist eine halbe Stunde vorbei, ein mattes Spiel, das wir hier sehen." Er kritisiert die Leistung der Engländer, die kaum etwas für das Spiel tun. Doch auch der Gegner beeindruckt Seeger nicht: "Vom Glanz eines argentinischen Spiels ist nichts zu sehen."
Mit Respekt, fast schon Ehrfurcht, spricht er nur über Diego Maradona. Immer wieder faszinieren ihn seine Dribblings, die für Unordnung in der gegnerischen Defensive sorgen. Seeger erklärt, dass die Engländer auf einen Manndecker verzichten: "Maradona entzieht sich einer Spitalsbewachung, indem er auf alle Seiten des Feldes ausweicht." Doch auch die Leistung des Spielmachers kann den Kommentator nicht vom Dargebotenen überzeugen. Kurz vor dem Pausenpfiff äußert er einen Wunsch: "Wir können nur auf eine bessere zweite Spielhälfte hoffen."
Die ersten Minuten nach der Pause unterscheiden sich kaum von der ersten Halbzeit. England ist passiv, Argentinien scheut das Risiko. Dann aber nimmt Seegers Wunsch Gestalt an. "Maradona. Immer wieder der Haken, entweder links oder rechts. Für Valdano. Und, und Tor! Maradona. Und Tormann Shilton zeigt an, dass der Treffer mit der Hand erzielt worden ist. Warten wir auf die Wiederholung." Seeger begreift das Geschehen schneller als manche seiner Kollegen. Für die BBC kommentiert Barry Davies das Spiel, er glaubt, dass Shilton eine Abseitsstellung anzeige. Erst während der Wiederholung wird er stutzig: "Wann soll er im Abseits gestanden sein? Oder war es ein Hands, über das sich die Engländer hier beschweren?" Seeger ist sich sicher: "Ein völlig irreguläres Tor in der 51. Minute."
Kosmischer Drache
Die Hand Gottes, die Maradona noch nicht für das Tor verantwortlich gemacht hat, steht im Mittelpunkt der nächsten Minuten der Übertragung. England traut sich währenddessen etwas weiter nach vorn, in der 54. Minute spielt Glenn Hoddle in der gegnerischen Hälfte einen Fehlpass, Hector Enrique passt den Ball zu seinem Kapitän: "Maradona. Maradona. Noch immer Maradona. Herrlich. Maradona. Und Maradona. Ein Supertor von Diego Maradona." Seeger wird während des Sololaufs immer lauter, für seine Verhältnisse ist er außer sich.
Sein Kollege Jimmy Magee im irischen RTE kommentiert das Tor mit sehr viel weniger Worten: "In einer anderen Liga", sagt er, nachdem Maradona die ersten drei Engländer abgeschüttelt hat, schweigt dann, bis er dieselbe Phrase ins Mikrofon schreit, als der Ball im Netz landet. Nach weiteren 15 Sekunden Stille fügt er an: "Wenn man über die größten Spieler in der Geschichte der WM redet, muss man diesen Mann auf ein Podest stellen."
Im Vergleich zu Victor Hugo Morales verblasst aber die gesamte Kollegenschaft. Der Uruguayer, der für Radio Argentina das Match kommentiert, ist von der Schönheit und der Bedeutung des Tores völlig ergriffen: "Ich möchte weinen! Guter Gott, es lebe der Fußball! Maradona auf einer denkwürdigen Reise, in einem Spielzug für die Ewigkeit. Kosmischer Drache, von welchem Planeten bist du gekommen, um so viele Engländer stehen zu lassen, sodass das ganze Land zu einer Faust wird, die für Argentinien schreit."
Knapp 35 Minuten später ist das Spiel zu Ende, am Sieg des späteren Weltmeisters ändert das Tor von Gary Lineker nichts mehr. Wer der Mann des Spiels ist, steht für Seeger fest. Während Schiedsrichter Bin Nasser abpfeift, sagt er: "Maradona hat gezeigt, dass er nicht nur der beste Fußballer ist, sondern mit allen Salben und Wassern des Fußballs geschmiert und gewaschen ist." (Moritz Ablinger, 16.12.2022)