Nein, wirklich verstehen muss man das natürlich nicht. Und dem Anschein nach tat das die Mitarbeiterin eines der großen angesagten Laufschuhlabels ja auch selbst nicht. Vor etwa eineinhalb Jahren stand sie mit dem allerneuesten Laufschuh ihres Hauses vor einer Gruppe eigens eingeflogener Journalisten aus mehreren europäischen Ländern und sprach über die Vorzüge jenes Schuhs, der das Laufen von Grund auf revolutionieren würde. Wieder einmal.

Da genau das aber zum Standardvokabular jeder Laufschuhinnovation gehört, nahm es die versammelte Fachpresse höflich lächelnd zur Kenntnis. Viel spannender war für uns etwas anderes: Der Schuh – ein Trailschuh – war weiß. Blütenweiß. "Euer Ernst?", fragte ein Journalist.

Foto: ©Traildog.at

Die PR-Frau zuckte mit den Schultern: "Das machen derzeit doch alle so," hieß dieses Schulterzucken. Natürlich sagte sie das nicht. Erst später, lange nach dem Abendessen, verriet sie, dass auch sie und ihre Kolleginnen und Kollegen uneins seien, wie genial diese Idee am Ende des Tages wohl sei. Allgemein – aber erst recht im Gelände.

Doch da ein Mitbewerber – Brooks, glaube ich – in der Vorsaison mit dem Claim "#everyshoetellsastory" und einer Kollektion fast ganz in Weiß auf den Markt gestoßen sei … und so weiter. Den Hashtag konnte der Mitbewerb nicht übernehmen – das Narrativ sehr wohl: Vor 1.000 Jahren hat Adidas schon weiße Sneaker mit Farbstiften ausgeliefert. Heute gibt es dazu eine Unzahl an Tutorials und Videos. Beim Laufen wird dann eben nicht gemalt, sondern durch Gebrauch "customized". (Im Bild: ein rares Exemplar der von Keith Haring "gepimpten" Adicolor-Serie in einem Ebay-Inserat.)

Foto: Screenshot/Ebay

Ganz unrecht haben die Marketingabteilungen der Hersteller mit diesem Gedankengang vermutlich nicht: Nur weil ein Designer oder eine Produktmanagerin grad lustig sind, kommen Schuhe nicht weiß, bunt oder sonst wie in die Läden. Das wird ziemlich genau getestet.

Und natürlich sehen die Regale der Laufschuhshops nicht zur Gänze aus, als würden dort nur Tennisschuhe verkauft (Frage an die Auskennerinnen und Auskenner: Sind die außer weiß immer noch nur weiß?): Die Zeiten, in denen ein Tony Nagy – der legendäre Gründer von Tonys Laufshop – Kundinnen und Kunden, die eine andere als die gerade verfügbare Schuhfarbe mit den Worten "Diskutieren Sie auch mit Ihrem Arzt über die Farbe der Medikamente?" aus dem Laden warf, sind lange vorbei.

Foto: Brooks

Denn der Trend zum Leinwand-Laufschuh begann schon vor einer, wenn nicht zwei Saisonen. Er ist auch noch lange nicht vorüber, verraten Herstellervertreter, die schon die nächsten zwei Saison-Kollektionen kennen. Einige vermuten allerdings, dass ihre Arbeitgeber den Trend zu weißen Alltagssneakern schlicht auch aufs Laufsegment übertragen – egal wie sinnvoll das bei "Performance"-Schuhen sei.

Aber ich bin halt "betroffen": Mit weißen Straßen-Laufschuhen habe ich kein echtes Problem – weil mir die Farbe von Sportgeräten oder Werkzeug egal ist. Weiße Schuhe landen (auch wenn das ein echter Glaubensstreit ist) hin und wieder in der Waschmaschine (ja eh: maximal 30 Grad, volle Trommel, kein Schleudern – trotzdem weiß ich, was ich jetzt gleich zu hören oder lesen bekomme …). Aber "ganz in Weiß" ins Gelände?

Foto: Tom Rottenberg

Wobei: das "… tells a story" stimmt tatsächlich. Auf die immer noch sicht- und erkennbaren Wüstensand-Spuren der einst blütenweißen On Cloudventure Peak, mit denen ich letzten Dezember den Wüstenmarathon von Eilat lief, bin ich auf eine ganz eigene Art beinahe stolz. Aber als ich dann unlängst (hier im Bild) den neuen Salomon Speedcross 6 ausprobierte, kam zu den – erwartungsgemäß – ziemlich leiwanden Performance-, Grip- und Passerfahrungen auch ein "Sind die wo ang’rennt?": Laufen Sie mal mit einem weißen Testschuh über eine tiefe, nasse Almwiese, durch die auch noch ein Bächlein fließt, an dessen Ufer Kühe den weichen Boden sumpfig getreten haben. Der Speedcross ist – traditionell und speziell in seiner wasserdichten Goretex-Variante – ein beliebter Herbst/Winter-Alltagsschuh. Aber: In Weiß?

Foto: Tom Rottenberg

Weil meine persönliche Skepsis aber nicht repräsentativ sein muss, fragte ich nach. Bei jenen Expertinnen und Experten, die wohl die authentischsten Reaktionen bekommen: bei Laufschuhshopbetreiberinnen und -betreibern.

Bei Herstellern klopfte ich auch an – dort war man aber (mit einer einzigen Ausnahme) mehr als zurückhaltend, Farb-Karten zitabel auszuspielen. Also bleibe ich beim Handel. Da "der Tony" hier schon vorkam, kommt als Erste gleich Michaela Holodniak zu Wort. Die Tochter von Tony Nagy führt heute den Laden, den ihr Vater vor 39 Jahren gründete: "Wir haben zum Glück wenig Diskussionen im Geschäft, da wir den Ruf genießen, dass man bei uns den richtigen bekommt. Nicht den schönsten. Stammkunden sagen: ‚Bitte genauso bequem – aber weniger hässlich.‘ Oder, lachend, ‚Bitte den hässlichsten, der passt meistens.‘"

© www.tonys-laufshop.at/

Das von der Industrie zum "customizing" schöngeredete Schmutz-Thema, sagt Holodniak, treffe allerdings auch zu. Bei "fleißigen" Läuferinnen und Läufern erzähle der Schuh interessante Geschichten. Farbe, so die Leopoldstädter Expertin, spiele aber vor allem bei jüngeren, vornehmlich weiblichen Kunden eine Rolle, sonst sei Farbe aber meist egal.

Mit einer Ausnahme – und die sei "nicht weiß": "Für bestimmte Berufsgruppen haben wir schwarze Schuhe auf Lager: Wir nennen sie Kellnerschuhe." Als ihr Vater vor fast 40 Jahren den Laden aufsperrte, seufzt Holodniak, war die Welt einfacher. Da kamen Schuhe meist in einer Farbe: "Hin und wieder würden wir uns diese Zeiten zurückwünschen. Als Händler ist es ein Krampf, dass Hersteller Modelle in bis zu acht Farben anbieten. Wie soll das ein kleiner Händler bewerkstelligen?" Sie selektiere bei der Order daher nach Erfahrung: "Gut gehen: blau, grau, schwarz, petrol. Schlecht: rot, neonfarben, pink."

Foto: © www.tonys-laufshop.at/

Wer in Wien "Tony" sagt, sagt auch "Blutsch". Hans Blutsch ist als Händler ebenso legendär wie Nagy. Auch in der Mariahilfer Liniengasse ist die Nachfolgefrage geklärt – und weiblich: Blutschs Tochter Katharina steht hier neben ihrem Vater. "Wenn Laufen einen hohen gesundheitlichen Stellenwert hat, wird nie nach der Farbe gefragt. Wenn es mehr zum Image beitragen soll, werden Aussehen und Outfit wichtiger", erklärt der Seniorchef – und setzt auf Aufklärung: "Wenn man Kunden klarmacht, was ihren orthopädischen Bedürfnissen am nächsten kommt, ist die Optik nicht mehr bedeutend."

Das Thema Farbe komme vor allem über den Onlinehandel in die Shops, weil Schuhe sich online "selbst verkaufen" müssen: Da bleibt als einziges Kriterium die Optik. "Weiß, schließt Blutsch, sei ein Nischenthema: "Ja, es gibt sie, die Nachfrage nach weißen Laufschuhen. Aber im Vergleich zu Schwarz ist sie marginal. Wenn, wird dieser Wunsch eher von Frauen geäußert. Die laufen dann meistens nicht damit, sondern verwenden sie als bequeme Sneaker."

Foto: ©www.laufsport-blutsch.at

Weiter im Süden, in Liesing an der Grenze zum Wienerwald, sind Elisa und Ed Kramer mit ihrem "Traidlogrunning" zu Hause: "Ed und ich haben bei der Vororder der ersten weißen Trailschuhe überlegt, ob das sinnvoll ist. Es war der Catamount von Brooks (nächstes Bild).

Die gab es nur in Weiß mit hellblauer Sohle. Das Verkaufsargument der Label-Leute war aber eingängig und überzeugend: ‚Mach die Schuhe zur Leinwand deiner Laufabenteuer‘ – als künstlerisch interessierte Menschen waren wir natürlich sofort dabei ;-)", schreibt Elisa, betont aber: "Im Verkauf haben meist andere Eigenschaften der Schuhe überzeugt. Sie wurden zum Großteil nicht wegen, sondern trotz der weißen Farbe gekauft."

Foto: ©Traildog.at

Weiß, so Elisa Kramer, löse wohl einiges aus: "Bei der Durchsicht unserer eigenen weißen Laufschuh habe ich festgestellt, dass diese kaum dreckig waren. Weil ich mit ihnen jede Wasserlacke umlaufe, sie zu Hause sofort unter den Wasserhahn halte und nur bei trockenem Wetter anziehe."

Weiße Schuhe, ist die Händlerin aus Liesing überzeugt, triggern "alle möglichen Reinlichkeitsgebote und Kindheitstraumata – damit bin ich sicherlich nicht alleine: Weiße Traillaufschuhe erfahren wohl mehr pflegerische Zuwendung als alle andersfarbigen Laufschuhe zusammen."

Foto: ©Traildog.at

Noch ein paar Kilometer weiter südlich, in Wiener Neustadt, gehört Laufsport Mangold zum Kreis jener Läden, in denen Schuhe nicht einfach verkauft, sondern nach eingehender Beratung "verschrieben" werden.

Der Trend zu Weiß, sagt Wolfgang Mangold, habe 2020 eingesetzt und sei "in der Beratung schwierig: Großteils wird dunkel, unauffällig und schmutzverträglich gewünscht", so wie bei den Kollegen in Wien zählten in seinem Laden "Funktion, Passform und Komfort". Als Argument der Hersteller, so Mangold, würde bei weißen Schuhen nicht nur "Retrolook und Style" angeführt, sondern auch die Recyclierbarkeit: "Weiße, ungefärbte Schuhe lassen sich leichter wiederverwenden. Recyceltes Material lässt sich besser in Schuhen verarbeiten, die ungefärbt sind." Wirklich zwingend, schränkt Mangold ein, sei das Argument seiner Ansicht nach aber nicht: "Sollte ein Schuh in die Wiederverwendung kommen, wird er ohnedies gereinigt und geschreddert.

©www.laufsportmangold.at

Sehr ähnlich wie seine Kolleginnen und Kollegen erlebt auch Peter Luegmaier die Schuh- und Farbpräferenzen seiner Kundschaft. Luegmaier machte sich, nach etlichen Jahren als Verkäufer bei "Tony", vor rund zwei Jahren in St. Pölten mit der "Lauflupe" selbstständig. "Posting Runner", sagt er "stehen auf weiße Schuhe", während die Klientel, die bei ihm unter "Kilometer-Kaiser" firmiert, eher zurückzuckt, sobald er ihr einen weißen Schuh vorlege. Doch auch für sie sei weiß bei einem als "richtig" empfundenen Schuh schlussendlich kein Grund, ihn nicht zu nehmen, so Luegmaier: Sein Zielpublikum halte es so wie er selbst: "Ich habe mich immer für den passenden, nie den schöneren Schuh entschieden: Mir sind das Laufgefühl und die Verletzungsfreiheit wichtiger."

Foto: © www.lauflupe.com

Doch auch diejenigen, Luegmaier spricht von "30 Prozent, vornehmlich Frauen", die nach einer anderen Schuhfarbe fragen würden, wären fast nie auf der Suche nach einem weißen Laufschuh: "Die ändern das Schuhmodell, wenn es nicht zur aktuellen Laufkleidung passt." Aber auch dann gelte meist "bitte nicht zu hell".

Aus dem einfachsten, naheliegendsten Grund, betont der Mann aus St. Pölten: "Na, ned – der is jo glei dreckig!" – egal, welche "Story" sich hinter Staub, Schlamm und Flecken verbergen könnte. (Tom Rottenberg, 1.11.2022)

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Foto: Tom Rottenberg