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Sebastian Kurz hat die ÖVP hinter sich gelassen und kandidiert auf dem Wahlzettel mit der "Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei". Aber auch Peter Pilz, Roland Düringer und Karl Schnell haben eigene Listen aufgestellt. Unter dem Label Bewegung treten die Neos und die Weißen auf.

Foto: Reuters / Leonhard Foeger

Ich liebe die politischen Parteien. Sie sind der einzige noch übrig gebliebene Ort, wo die Menschen nicht über Politik reden.

Oscar Wilde (1854–1900)

Emmanuel Macron hatte eine, die für ihn marschierte. La République en Marche führte ihn im Frühling 2017 in den Élysée-Palast in Paris und kürte den 39-Jährigen zu Frankreichs Staatspräsidenten. Beppe Grillo, Komiker seines Zeichens, bewegte wiederum Italien im Zeichen der fünf Sterne und schaffte mit dem Movimento 5 Stelle 2013 bei der Parlamentswahl aus dem Stand 25 Prozent. Und seit dem aktuellen Sommer hat auch Sebastian Kurz eine eigene Bewegung in Türkis, die Liste Sebastian Kurz. Appendix für wehmütige Schwarz-Traditionalisten: die neue Volkspartei.

Doch er ist nicht der einzige Kandidat, der den alten Parteien Adieu sagt und in diesem Wahlkampf persönlich bewegt und gelistet antritt. Während Kurz auf diese Weise ins Kanzleramt einziehen möchte und der ÖVP-Garde in den Ländern und Bünden einen Kniefall und (zwischenzeitlichen) Machtverzicht sondergleichen abgerungen hat, wollen es andere mit dem modern klingenden Personality-Vehikel Liste oder einer Dynamik symbolisierenden Bewegung in den neuen Nationalrat schaffen: Von den zehn Parteien, die bundesweit antreten, sind diesmal gleich sechs Gruppierungen, die Wert darauf legen, eben nicht als Partei aufzutreten, sondern als Liste Kurz/Pilz/Düringer/Schnell oder als Bürger_innen-Bewegung (Neos) bzw. Volksbewegung (Die Weißen). Nimmt man die Fusion KPÖ Plus dazu, dann ist der eine Partner zwar noch immer Partei, allerdings eine "offene Partei", der Plus-Partner aber erklärt sich zur "Mitmach-Plattform".

Partei ist organisierte Meinung.

Benjamin Disraeli (1804-1881), konservativer britischer Premierminister und Schriftsteller

Alles, nur ja keine Partei? Woher kommt diese Parteienaversion? Erleben wir die Götterdämmerung der klassischen Parteien? Die Erosion des etablierten Parteiensystems? Brauchen wir überhaupt politische Parteien, oder geht Demokratie auch ohne sie? Was ist passiert, dass aus Exbundeskanzler Fred Sinowatz' (SPÖ) Diktum "Ohne die Partei bin ich nichts" quasi das Gegenteil zur politischen Heilslehre wurde? Auch bei Bruno Kreiskys Abschied klang das noch so: "Die Partei hat meinem Leben Sinn und Inhalt gegeben."

Nun, fragen wir den Politikerklärer der Nation, Peter Filzmaier: Warum brauchen wir überhaupt Parteien? "Um Interessen demokratisch umzusetzen. Demokratie heißt, dass jemand sagen kann, was er meint, aber auch, was er oder sie will." Wenn viele etwas meinen oder wollen – sei es ideell, ideologisch oder schlicht materiell-ökonomisch -, dann muss das zwangsläufig zusammengeführt und -gefasst werden, um die Chancen auf Umsetzung zu erhöhen. Als Sprachrohre kommen dann Parteien, Interessenvertretungen oder auch Einzelpersonen ins Spiel – auf unterschiedlichen Spielwiesen: "Parteien wollen ins Parlament und in die Regierung, Interessenvertretungen wollen von außen beeinflussen", erklärt Filzmaier.

Was das Modell Einzelpolitiker als Treuhänder der Wählerinteressen betrifft, so gebe es in Österreich und Deutschland – im Gegensatz etwa zu den USA, wo das Parteiensystem "noch immer sehr schwach" ist – aber eine "große Skepsis gegen Personenkult", sagt der Politikwissenschafter. Nach diversen mehr oder weniger glückvollen Episoden mit Monarchen und verheerenden Erfahrungen mit "Führern" habe sich das Modell "Einzelperson als Vertretung nicht sehr bewährt". Das war dann die Stunde der Parteien, und deshalb haben wir auch ein Listenwahlrecht und keine personenbezogene Mehrheitswahl.

Wer sich über den Parteien wähnt, ist nicht unpolitisch, sondern gefährlich.

Jürgen Habermas, deutscher Philosoph, in "Die Zeit", 19. 4. 2017

Was sind die Verdienste der Parteien? Filzmaier nennt "Zweimal Aufbau der Republik". In einer Situation, in der es so viele Interessen wie Menschen, die hier leben, gebe, sei es eine enorme politische Leistung, "dass letztlich ein gemeinsames Interesse herauskommt, das das Gesamtinteresse nicht gefährdet. Als Kompromiss ein gemeinsames Gesamtinteresse hinzukriegen ist eine Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik. Dafür haben sich die Parteien bewährt." – In den 1930er-Jahren hingegen ist ihnen das nicht gelungen, diese mündeten in einem Bürgerkrieg.

Die konsensuelle Mittelwegsuche müssten nicht zwangsläufig Parteien leisten, "aber in Österreich hat sich das bewährt", sagt der Politikprofessor. Vieles von dem, was den Parteien im politischen Alltag nachteilig ausgelegt werde, habe natürlich einen funktionalen, sachlichen Hintergrund: "Der Klubzwang im Parlament schafft ja zum Beispiel auch Stabilität." Und Verlässlichkeit. Wohingegen permanente Bewegung beim Publikum auch als nervöse Unruhe und Unrast ankommen kann.

Werft die Parteien nicht auf den Mist, und klammert euch nicht an Personen.

Franz Vranitzky, ehemaliger Kanzler und SPÖ-Chef, im "Kurier", 3. 7. 2017

Warum also dann diese Wanderung weg von den Parteien hin zu Bewegungen und Personality-Listen in der Politik? Weil diejenigen, von denen "der bewegte Mann" (bis jetzt gibt es keine Frau mit eigener Liste) gewählt werden möchte, sich schon längst weiterbewegt haben. Zum einen gebe es, so Filzmaier, einen steten Mitgliederschwund bei typischen Mitgliederorganisationen, wie es Parteien sind. Die Bindung an eine Partei oder einen Verein als Mitglied ist zu viel an Verbindlichkeit, die lockere Facebook-Gruppe passt da viel eher. Heute Freund, morgen geblockt und Verbindung gekappt. Weiter, immer weiter. Bewegung bitte! Auf zu neuem.

Neben diesem gesellschaftlichen Trend gebe es aber auch echte Parteiverdrossenheit. Wenn wie nach der Nationalratswahl 2013 zwei Drittel der Befragten meinen, dass Parteien nicht die Anliegen ihrer Wählerinnen und Wähler vertreten würden, sondern nur Macht wollen, dann hat das Modell "Partei" ein Problem.

Gründe dafür lassen sich mehrere finden: Aus der vermeintlichen Allmacht der Parteien, die mitunter "von der Wiege bis zur Bahre" an der Seite der Wähler paradierten und mehr oder weniger hilfreich zur Seite standen gegen diversen Welten- und Lebensunbill, ist eine massiv eingeschränkte Lösungskompetenz geworden. Ja, es stimmt: Es ist alles sehr kompliziert, in einer globalen, digitalisierten Welt erst recht. Und wenn dann weit und breit kein gemeinsames Ziel mehr da ist wie etwa der Wiederaufbau der Republik oder, wohl die bislang letzte große nationale Kollektivvision, der EU-Beitritt Österreichs, dann bieten sich die Parteien schnell als Boxsack, stellvertretend für "das System", an. "Die vielzitierte Politikverdrossenheit hat als Parteiverdrossenheit parallel mit Politikerverdrossenheit, begonnen", erinnert Filzmaier.

Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann: Er denkt sich bald durch die Partei hindurch.

Friedrich Nietzsche, "Menschliches, Allzumenschliches", 1878

Soziologen sprechen von der Fragmentierung der Gesellschaft, die Lebensmodelle und -milieus sind viel ausdifferenzierter und komplexer, als sie die traditionellen Parteiangebote im Visier und Programm hatten. "'Catch-all parties' gibt es nicht mehr." Die Alternative sind weniger die "single-issue parties", sondern vielmehr die "single-star parties" alias Liste Ich. Eigentlich ein recht sinnfälliger Ausdruck für eine Gesellschaft der Individualisten und Singularisten. Sie wollen natürlich auch im Politikmarkt das vermeintlich Einzigartige: "Wenn sich der Unmut gegen die etablierten Parteien richtet, dann hat jede Liste eine Chance, die auf irgendeine Art anders ist", sagt Filzmaier und nennt als Beispiele Ernest Kaltenegger (KPÖ Graz), Fritz Dinkhauser (ÖVP), Hans-Peter Martin (parteifrei für SPÖ) oder Frank Stronach. Ihre Gemeinsamkeit? "Sie haben sich irgendwie anders präsentiert als der Rest."

Aber neu waren sie nur bedingt. Sie konnten sich entweder auf funktionierende Parteiapparate hinter sich verlassen, waren etablierte Medienfiguren oder hatten schlicht das nötige Kleingeld im Großformat. Filzmaier spricht von "Neuen im alten Gewand" plus solchen Politikeinsteigern, die "Geld und/oder Medien" aufbieten konnten. Auch jetzt zu beobachten etwa daran, "dass sich die derzeit führende Partei recht erfolgreich das Image einer neuen Liste gibt", wiewohl Listengründer Kurz das längstdienende Regierungsmitglied der Regierungspartei ÖVP ist. Peter Pilz' Neuigkeitsfaktor liegt auch bei immerhin 31 Jahren als Abgeordneter. "Das ist schon speziell in Österreich", sagt der Politologe. Er sieht "ein österreichisches Paradoxon, dass scheinbar neue Parteilisten antreten, die aber natürlich einen Know-how-Vorsprung haben".

Allerdings hätten die früheren Beispiele von Parteiabspringern, die eine Zeitlang durchaus erfolgreich waren, dann doch gezeigt, "dass diese Erfolge oft nicht nachhaltig sind", warnt Filzmaier vor einem verfrühten Abgesang auf Parteien als zentrale demokratische Trägerinstitutionen. Liste Fritz, Liste Martin, Team Stronach – "alle weg".

Und jetzt? Alte Parteien? Neue Listen? Alles neu – alles besser? Oder schlechter? Vielleicht empfiehlt sich eine nüchternere Betrachtung. Hilfreich könnten die Worte eines irischen Literaturnobelpreisträgers sein, der auch etwas von Politik verstanden hat, war er doch an der Gründung der britischen Labour Party im Jahr 1900 beteiligt. Er meinte nämlich:

Demokratie ist ein Verfahren, das garantiert, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.

George Bernard Shaw (1856–1950)

In fünf Jahren gibt es die nächste Verbesserungsmöglichkeit. (Lisa Nimmervoll, 14.10.2017)