Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und der türkische Präsident Tayyip Erdoğan beim G20-Gipfel in Hamburg: Anfang Juli versuchte man die Meinungsunterschiede noch zu überspielen. Aber die Wege der deutschen und der türkischen Regierung trennen sich unübersehbar immer weiter voneinander.

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Der deutschen Regierung scheint der Geduldsfaden punkto Türkei endgültig gerissen zu sein. Sigmar Gabriel (SPD) unterbrach seine Ferien, um eine Neuausrichtung der deutschen Politik gegenüber der Türkei zu verkünden. "Wir können gar nicht anders", sagte der Außenminister am Donnerstag in Berlin. Unter anderem verschärft Berlin die Reisehinweise für die Türkei und warnt vor nicht nachvollziehbaren Maßnahmen der türkischen Justiz.

Die härtere Gangart des deutschen Außenministers allein mit dem anstehenden Bundestagswahlkampf zu erklären greift zu kurz: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich explizit hinter dieses Vorgehen und den auch deutlich schärferen Ton Gabriels gegenüber dem türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan gestellt. Die Maßnahmen seien "angesichts der Entwicklung notwendig und unabdingbar", ließ Merkel über ihren Sprecher Steffen Seibert wissen.

In Ankara rief Präsidentensprecher Ibrahim Kalin zu einer rationalen Form des Umgangs auf und nannte Gabriels Erklärungen populistisch. Sie seien Teil des Wahlkampfs in Deutschland. Das türkische Außenministerium hatte sich schon in der Früh in einer Erklärung erbost über die Einbestellung des türkischen Botschafters in Berlin gezeigt. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu kritisierte auf Twitter die deutsche Regierung. "Die Äußerungen Deutschlands zeugen von Doppelmoral und sind inakzeptabel, weil das Land PKK- und Feto-Terroristen Schutz gewährt."

Die Äußerungen der Regierungs- und Außenamtssprecher seien "Beispiele diplomatischer Unhöflichkeit", hieß es in Ankara. Eine solche direkte Einmischung in die türkische Justiz sei unannehmbar.

Eine Einschätzung von ORF-Türkei-Korrespondent Jörg Winter.
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Am Freitag sagte dann der deutsche Kanzleramtsminister Peter Altmaier, es seien auch weitere Schritte denkbar: "Wir werden zu jedem Zeitpunkt prüfen, ob weitere Beschlüsse notwendig sind. Und die werden wir dann gegebenenfalls auch öffentlich verkünden." Altmaier wollte sich nicht zu einem "Bild"-Bericht äußern, wonach die deutsche Regierung Rüstungsprojekte mit der Türkei auf Eis gelegt hat. Das Blatt berichtete, das betreffe bestehende und geplante Vorhaben.

Menschenrechtsaktivist unter Terrorverdacht

Das Fass zum Überlaufen brachte die Verhaftung des deutschen Staatsbürgers Peter Steudtner (45) Anfang Juli. Der Menschenrechtsaktivist wurde wegen Terrorverdachts in Untersuchungshaft genommen. Gabriel bezeichnete die Vorwürfe als "abwegig und an den Haaren herbeigezogen".

Wegen angeblicher Unterstützung von Terrororganisationen wurden seit dem Putschversuch im Juli 2016 bisher 22 deutsche Staatsbürger in der Türkei verhaftet, neun von ihnen – darunter der deutsch-türkische "Welt"-Journalist Deniz Yücel – sitzen nach wie vor in Haft.

Wer unbescholtene Besucher seines Landes festnehme, der verlasse "den Boden europäischer Werte", setzte Gabriel zu ungewohnt scharfer Kritik an. "Ich übrigens glaube, er verlässt auch das, was die Nato sich als Wertebündnis immer im Selbstverständnis gegeben hat."

Ankara erbost

Der türkischen Regierung nahestehende Zeitungen wie "Aksam" und "Star" präsentierten ihren Lesern "Beweise" über die verschwörerischen Tätigkeiten der "zehn Agenten", wie die festgenommenen Menschenrechtler genannt wurden. Einer soll auf seinem Computer eine Karte gehabt haben, die kurdische Gebiete in der Türkei, Syrien und dem Irak zeigte – für die Zeitungen ein klarer Beleg, dass die "Agenten" die Türkei zerstückeln wollten.

In Deutschland verfestigte sich am Donnerstag der Verdacht, die in der Türkei inhaftierten deutschen Staatsbürger seien politische Geiseln Erdoğans. Dieser versuche von Berlin die Auslieferung von nach Deutschland geflüchteten Exgenerälen der türkischen Armee zu erzwingen.

Erdogan soll Yücel im Tausch gegen Exgeneräle geboten haben

Laut "Bild" hat Erdoğan Gabriel ein Angebot unterbreitet: Der türkische Präsident habe die Überstellung Yücels in Aussicht gestellt, sollte Deutschland im Tausch türkische Generäle ausliefern. Gabriel bestätigte das nicht, Dementi von einem Sprecher Gabriels gab es aber auch nicht: Es sei "undenkbar, solche Art von Geschäften mit Menschen zu machen".

Mit Erdoğan werde es kein Zurück zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mehr geben, sagte am Donnerstag ein Türkei-Experte, der anonym bleiben wollte, im Gespräch mit dem STANDARD: Demokratie sei für Erdoğan ein Risiko, da er sich womöglich vor Gerichten für seine heutige Politik verantworten müsse – und das wolle er mit aller Kraft verhindern.

Isolation und Ruin

Für den Umbau der Türkei zu einer Quasidiktatur nehme Erdoğan alles in Kauf – auch den wirtschaftlichen Ruin und die totale politische Isolation. Sein Ziel sei es, 2019 erneut zum Präsidenten gewählt zu werden, um danach "durchregieren" zu können.

Die totale Isolation der Türkei wird der Westen indes zu verhindern versuchen – nicht in erster Linie wegen des Flüchtlingsabkommens mit der EU, so der Türkei-Experte: Selbst wenn Erdoğan es scheitern lasse, würde das nicht zu einer Situation wie im Spätsommer 2015 führen, da unter anderem die Balkanroute heute weitgehend blockiert und die Grenze zu Syrien nicht mehr so durchlässig sei. Vielmehr solle vor allem die Nato alles daransetzen, die Türkei – seit 65 Jahren Mitglied – im Bündnis zu behalten. Allein die geostrategische Lage als Brückenkopf nach Asien und in die islamische Welt mache die Türkei zu einem enorm wichtigen Partner.

Russland, ein wichtiger Energielieferant der Türkei, habe bekanntlich Interesse an einer Schwächung der Nato und versuche über Ankara das westliche Bündnis zu schwächen. Der endgültige Bruch der Türkei mit dem Westen könnte verheerende Folgen haben, warnt der Politologe. (Christoph Reichmuth aus Berlin, red, 20.7.2017)