Wien – Der Tod lauert gerne im Rosenstrauch. In grüner oder brauner Gestalt kommt er daher und bewegt sich meist nur in Zeitlupentempo zwischen den Zweigen. Doch die Trägheit täuscht. Wenn Futter in die Nähe kommt, kann die langbeinige Kreatur blitzschnell zuschlagen. Nur 60 Millisekunden später zappelt das Opfer zwischen den Fangscheren.

Gottesanbeterinnen schnappen sich sogar Schmetterlinge aus der Luft, wie der Biologe Johannes Gepp vom Naturschutzbund Steiermark berichtet. Alles, was greifbar sei, werde attackiert. Agile Beutetiere versuchen die Raubinsekten möglichst schnell durchzubeißen, um sie an weiteren Bewegungen zu hindern. Nur größere Käfer schaffen es öfters zu entkommen, sagt Gepp. Mit ihren glatten Panzern rutschen sie den Jägerinnen leicht aus den Krallen.

Mantis-religiosa-Weibchen können bei der Paarung schon einmal ihrem Galan den Kopf abbeißen.
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Zoologen haben die Europäische Gottesanbeterin auf den Namen Mantis religiosa getauft, weil sie dank ihrer gefalteten Scheren ein wenig an Betende erinnert. Ansonsten ist ihr Ruf nicht gerade fromm. Männerverschlingend soll sie sein, im wahrsten Sinne des Wortes. Tatsächlich kommt es vor, dass die Weibchen bei der Paarung ihrem Galan den Kopf abbeißen und ihn anschließend verspeisen. In der Natur ist ein solches Verhalten allerdings eher die Ausnahme, betont Johannes Gepp.

Sinnvoller Partnerverzehr

Aus evolutionsbiologischer Sicht könne der Partnerverzehr trotzdem sinnvoll sein. Der Vater ernährt indirekt seinen Nachwuchs und bietet ihm dadurch bessere Startbedingungen ins Leben, wodurch sich auch seine eigenen Gene stärker verbreiten können. Eine ganz besondere Investition in die Zukunft, sozusagen.

Bezüglich ihres Lebensraums gilt die Gottesanbeterin eigentlich als Kind des Südens. Im Osten Österreichs jedoch ist die Art schon seit langem ansässig – bis nach Wien hinein. Der Verbreitungsschwerpunkt liegt hierzulande im Burgenland. "Rund um den Neusiedler See haben sie ideale Vermehrungsbedingungen", erklärt Gepp. Dort profitiere Mantis religiosa von den trockenen, warmen und vor allem langen Sommern.

Die Gottesanbeterin ist äußerst flexibel: Opfer kommen ihr kaum aus.
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Der Hintergrund: Die Tiere entwickeln sich relativ langsam. Vom ersten Larvenstadium bis zur Geschlechtsreife brauchen sie circa sechs Monate. Die erwachsenen Exemplare können nicht überwintern, nur die bestens in eine Art biologischen Hartschaum eingekapselten Eier überstehen die Kälte. Somit muss jedes Jahr eine neue Generation heranwachsen und sich fortpflanzen.

Der Klimawandel spielt den sechsbeinigen Raubtieren jedoch in die Karten. "Sie sind eines der wenigen besonderen Insekten, die deutlich in Anzahl zunehmen", sagt Gepp. Dieser Trend habe etwa 1983 eingesetzt. Inzwischen kommt die Gottesanbeterin auch in Teilen Oberösterreichs vor, die Ersten von ihnen schaffen es wohl schon bis nach Tirol. Der Süden Kärntens wurde ebenfalls von Mantis religiosa besiedelt, und in der Steiermark ist die Art laut Gepp bereits bis nördlich von Graz vorgerückt.

Ihr Auftreten hängt allerdings nicht nur von der Vermehrung vor Ort ab, wie der Wissenschafter erläutert. "Einzelne Tiere können mehr als 100 Kilometer weit fliegen." Im Spätsommer komme es gelegentlich zu regelrechten Einwanderungswellen, vor allem aus Slowenien. Solche Migrationsbewegungen sind vermutlich eine Folge von wachsendem Populationsdruck im Herkunftsgebiet.

Farbliche Anpassung

Der österreichische Naturschutzbund und Schwesterorganisationen in Deutschland haben die Gottesanbeterin zum "Insekt des Jahres 2017" gekürt, eben um auf die Klimaerwärmung aufmerksam zu machen. Interessanterweise lässt sich bei den Sechsbeinern in letzter Zeit eine mutmaßliche Anpassung an veränderte Umweltbedingungen feststellen. "Früher waren alle in Österreich vorkommenden Gottesanbeterinnen grün", berichtet Johannes Gepp. Heute jedoch sehe man immer mehr braune und graue Exemplare. Das könne eine Adaption an das Leben in neuen Habitaten sein.

Gerade in Städten wird Mantis religiosa immer öfter gesichtet. Diese urbanen Jägerinnen haben eine Vorliebe für Friedhöfe, erklärt Gepp. Die Grabsteine speichern Wärme und optimieren so das Mikroklima, während gleichzeitig genug Vegetation mit Beutetieren vorhanden ist.

Bei der Ernährung ist das Raubtier auf sechs Beinen nicht sonderlich wählerisch – selbst giftige Tiere stehen auf dem Speiseplan.
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Um bei der Ernährung nicht wählerisch sein zu müssen, haben Gottesanbeterinnen offenbar eine weitere faszinierende Fähigkeit entwickelt. Forscher kamen dieser zunächst bei der ursprünglich in Ostasien beheimateten Spezies Tenodera sinensis auf die Spur. "In Nordamerika wurde sie zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt und ist dort jetzt außer Kontrolle geraten", erklärt Dietrich Mebs, Toxikologe an der Universität Frankfurt am Main. Die Chinesischen Gottesanbeterinnen in den USA machen unter anderem Jagd auf die hochgiftigen Larven des berühmten Monarchfalters (Danaus plexippus). Mebs sah sogar, wie die Großinsekten Molche der Gattung Notophthalmus verspeisten. Letztere enthalten Tetrodotoxin, welches auch die japanischen Kugelfische zu gefährlichen Delikatessen macht.

Resistent gegen Gift

Große Raupen wie die des Monarchfalters fressen Gottesanbeterinnen aber nicht im Ganzen. Stattdessen brechen sie die Larven auf, nehmen das Gedärm heraus und lassen es liegen. Die Raupen verdanken ihre Toxizität dem Verzehr giftiger Pflanzen. Durch Entfernen des Darms mitsamt Inhalt vermeiden die Gottesanbeterinnen die Aufnahme eines Großteils des Gifts, dachten Experten. Die Theorie stimmt allerdings nicht.

Dietrich Mebs und seine Kollegen führten entsprechende Messungen durch. Den Ergebnissen zufolge nehmen die Raubinsekten durchaus erhebliche Mengen der Gifte im Körper auf, aber diese gelangen nicht in den Stoffwechsel (vgl. Toxicon, Bd. 131, S. 16). Nach kurzer Zeit wird praktisch alles wieder mit dem Kot ausgeschieden. Die Toxine benötigen aktive zelluläre Transportsysteme, sonst können sie die Darmschleimhaut nicht passieren, betont Mebs. Bei den Gottesanbeterinnen fehlen diese Mechanismen anscheinend. Dadurch sind sie auch gegen die gefährlichsten Gifte resistent. (Kurt de Swaaf, 25.6.2017)