Frank Castorf erhält den Nestroy-Lebenswerkpreis in Wien und eilt zurück nach Berlin, wo er ausgehend von Goethes "Faust II" über das Paris der Belle Époque nachdenken möchte.

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STANDARD: Man gewinnt den Eindruck, Sie steigern ihre immense Arbeitsleistung immer noch weiter. Soeben hatte Ihre Inszenierung von Gounods "Faust"-Oper in Stuttgart Premiere. Sind Sie Anhänger jener alten Sowjet-Theorie, laut der es ein machbares Ziel sein soll, die biologische Unsterblichkeit zu erreichen? Kann man mit künstlerischer Rastlosigkeit den Skandal der Zeitlichkeit vergessen machen?

Castorf: Das ist schon ein Privileg, wenn man für etwas bezahlt wird, das einem Lustbefriedigung bereitet. Dann hat meine Arbeitsweise mit dem Futurismus zu tun. Es ist philosophisch hochinteressant, sich mit der Schweinerei des Todes nicht abzufinden. Denken Sie an die russischen Bio-Kosmisten. Das waren nicht nur Schwärmer, sondern von denen wurde die Raketentechnik vorangetrieben. Wir können nicht ewig auf dem Planeten bleiben. Wohin kann die Reise gehen? Welche Artefakte kann man sammeln, um die eigene Unsterblichkeit zu organisieren?

STANDARD: Sie beziehen sich auf Platonows "Tschewengur", Ihre Romandramatisierung aus der Sowjetzeit bei den Festwochen?

Castorf: Wir sind von solchen Überlegungen heute weit entfernt. Umgekehrt ist es vielleicht auch eine Erlösung, nicht mehr zu sein. Denken Sie an das Bildnis des Dorian Gray! Im Augenblick macht es mir durch meine private und berufliche Situation Spaß, die Maschine Mensch zu überfordern und zu sehen, wie lange das funktioniert. Ich arbeite mehr nach dem intuitiven als nach dem ausgeklügelt-konzeptuellen Prinzip.

STANDARD: Inwiefern?

Castorf: Wenn man mit einer gewissen Gnadenlosigkeit gegen sich selbst arbeitet, kann man sehr schnell ganz konkret werden. Man muss ein situativer Mensch sein, und das habe ich von Bertolt Brecht gelernt. Man hat eine Straßenszene vor sich, und man sieht sofort den Autounfall. Es ist immer wieder wichtig, jeder Situation etwas Konkretes zu unterlegen. So etwas hat bei mir immer mit Geschichte zu tun ...

STANDARD: Mit der Tradition der Widersetzlichkeit?

Castorf: Wir gehen mit Leibniz davon aus, die bestehende sei die beste aller denkbaren Welten. Das stimmt bloß nicht. Mit dem Genuss am Geschichtsbewusstsein ist die Fragestellung so zu präzisieren, dass nichts so bleiben muss, wie es heute ist. Wenn man an die Konstanten von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit denkt, aus denen sich unser Demokratiebegriff herausgeschält hat ...

STANDARD: Auf Umwegen?

Castorf: Für uns heute wird der Demokratiebegriff mit dem Recht zu kaufen identifiziert. Mit der Möglichkeit, dass viele eine Entscheidung mittragen. Wenn uns die Konstruktion "Vereinigtes Europa" nicht passt, weil ein kleines Land ausschert... "Die Minderheit einer Minderheit gängelt die Mehrheit von 500 Millionen Europäern"? Es muss demokratisches Recht sein, gegen die gängige Meinung auszuscheren, gegen die politische "Vernunft". Dieses Bewusstsein scheint uns immer mehr abhanden zu kommen.

STANDARD: Geht es in Ihrer Arbeit nicht auch um den "Potlatsch", die Verausgabung, das Strapazieren und Überfordern der Apparate?

Castorf: Potlatsch heißt, etwas zu verschenken, ohne einen Gegenwert dafür zu erhalten. Das Ziel besteht darin, den Gegner zu beschämen durch die eigene Großzügigkeit. Wenn man Stoffe, Ideologien bearbeitet, wenn man beim Opernkomponisten Gounod auf das Zweite Kaiserreich stößt, auf den Flaneur, auf den Warenverkäufer – wenn man das bearbeitet, ohne sich von der Partitur zu entfernen, dann ist es erstaunlich, was man alles finden kann.

STANDARD: Das meint mit Blick auf uns?

Castorf: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Bismarck überlässt Frankreich die Kolonien, und Frankreichs großes Imperium entsteht, in Asien, in Indochina, in Nordafrika. Was mich bei Gounod interessiert, und was mich bei Goethes Faust II interessieren wird, den wir an der Volksbühne machen: Auch der wird bei mir in einer Pariser Umgebung spielen. Wenn wir immer sagen: "Je suis Charlie" – ich bin nicht Charlie! Und wenn sich die Menschen unterhaken bis zur nächsten Ohnmachtsattacke, dann ist das geschichtlich ungenau. Weil hier Menschen zusammengehen, die nichts miteinander zu tun haben. Hier gibt es "Demokratie zu verkaufen", wie Rimbaud in einem seiner berühmten Gedichte sagt, kurz nach der Pariser Kommune.

STANDARD: Sie geben 2017 nach 25 Jahren die Leitung der Berliner Volksbühne ab. Sind Sie mit sich und dem Vorgang im Reinen?

Castorf: Natürlich ist es ein Privileg, eine Gemeinschaft zu organisieren mit den Mitteln der Gesellschaft. Wenn man das über 25 Jahre machen kann, ist das sicher etwas sehr Besonderes. Juristisch ist das in Ordnung, wenn man jetzt etwas anderes haben will. Aber ein Theater ist ein Sender, den man in der Hand hat. Jeder Sender kann auch gefährlich werden. Es ist jetzt so, dass man jemanden wie mich, der im royalistischen Sinn selbstherrlich die Volksbühne wie ein Kampfinstrument geführt hat, nicht mehr haben möchte. Das ist keine kulturpolitische, sondern auch eine politische Entscheidung. Kunst ist ein Spezialfall der geistigen Arbeit, und ein Modellfall freier Arbeit. Bis zuletzt gilt bei uns: Die Produktion ist wichtig, nicht die Verwertung. (Ronald Pohl, 7.11.2016)