Michelle Williams und Casey Affleck als leidendes Ehepaar in "Manchester by the Sea".

Viennale

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Kenneth Lonergan: vom kleinen zum großen Bild.

Reuters

Wien – Ein Mann schaufelt Schnee. Das mag wie ein beliebiger Beginn wirken. Doch mit jeder Schaufel und von einer Tätigkeit zu nächsten gewinnt Lee, die von Casey Affleck famos verkörperte Hauptfigur aus Manchester by the Sea, stärkere Konturen, Haltung und Statur. Nur gänzlich sichtbar wird er nicht. Die Welt perlt an diesem Hauswart und Installateur, der anderen zu Hilfe kommt, auf seltsame Weise ab. Selbst als er einmal ordentlich angepflaumt wird, scheint es ihn nicht groß zu bekümmern. Er wirkt unnahbar. Und doch genügt dann nur ein Blick, und er gerät in Rage.

"Ich versuche stets , auf einen fahrenden Zug aufzuspringen", sagt Kenneth Lonergan über die erste konkrete Inspiration für einen Film. "Im Inneren, meine ich – und dafür brauche ich mehr als eine Figur." Den 54-jährigen New Yorker, der schon als Dramatiker erfolgreich war, bevor er mit You Can Count on Me 2000 sein gefeiertes Kinodebüt realisierte, faszinieren Beziehungen, vielfältige Perspektiven. "Auch Lee ist nicht die einzige Person in der Welt; er denkt nicht einmal, dass er das sei. Er geht auf die Straße, zur Arbeit, das Leben spielt sich rund um ihn ab. Allerdings versucht er sehr bewusst, es in Schach zu halten."

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Der Grund für Lees Abwehrhaltung liegt in einer Tragödie, die der diesjährige Viennale-Eröffnungsfilm erst nach und nach freilegt. Rückblenden, mitunter als solche nicht gleich zu erkennen, führen zu dem Schlüsselereignis, das seinem Leben eine schreckliche Wendung gab. Dass Manchester by the Sea, der seit seiner Premiere beim Sundance-Filmfestival nur Ovationen empfängt, dennoch nicht nur niederschmetternd traurig, sondern veränderlich, erhebend, auch komisch wie das Leben selbst bleibt, ist eines der Kunststücke des Films.

Er möchte dem Publikum nicht damit auf den Kopf schlagen, wie elend alles sei, sagt Lonergan dazu mit der Trockenheit von jemandem, der in der Bronx aufgewachsen ist. "Ein einsamer Mensch, der die ganze Welt gegen sich hat? Langweilig." Und über die Hartnäckigkeit der Komik meint er: "Ich glaube, dass man seinen Sinn für Humor nicht verliert – selbst Lee, der alles andere verloren hat, besitzt ihn."

Die "enormity of the world", die Ungeheuerlichkeit der Welt, nannte Lonergan sein vielspuriges Erzählen einmal in Bezug auf Margaret, seinen zweiten Film, der aufgrund von Auffassungsunterschieden mit einem Produzenten 2011 erst mit sechsjähriger Verspätung ins Kino kam. In dieser Großstadtsymphonie wird die 17-jährige Lisa (Anna Paquin) mit einem Todesfall konfrontiert, der Emotionen in ihr weckt, für die sie noch kein Maß hat. Das zwingt sie förmlich zum Kollisionskurs. Mit der Schule, der Familie, dem Gericht, der ganzen Gesellschaft.

Komische Tiefkühlhühner

"Es sind stets andere Leute, viele Gegenüber, die den Konflikt bestimmen. Darum ging es in Margaret. Manchester by the Sea handelt eher von der Ungeheuerlichkeit eines Lebens, von dem der Held wünscht, dass es einfach aufhören würde", sagt Lonergan. Was ihn im Kern interessiert? "Zwei verschiedene Perspektiven wirklich zu verstehen, auch solche, die sich widersprechen." Bezogen auf "die Vorstellung kleiner Menschen in einer immensen Welt".

Die zweite, erbaulichere Geschichte, die Manchester by the Sea erzählt, beginnt mit Lees Patenschaft für seinen Neffen Patrick (Lucas Hedges), der gerade seinen Vater verloren hat. Der Fischerort an der Küste Massachusetts', an dem die beiden es eine Zeitlang miteinander versuchen – dies war der Wunsch des Verblichenen -, liefert dem Film den Titel. Hier begegnen wir auch Lonergans großem Talent, in einem Setting, das von schweren Gefühlen durchtränkt ist, Grotesk-Komisches zu finden. Ein Beispiel: tiefgefrorene Hühner, die aus dem Kühlschrank purzeln und in Patrick das Bild seines Vaters in der Leichenhalle wachrufen.

"Ich versuche immer, von den kleinen Bildern zu den größeren vorzudringen. Mir gefiel diese Idee, dass Lee in jeder Situation versucht, seinem Neffen, seiner Verantwortung gerecht zu werden – und das, obwohl er doch selbst so versehrt ist. Das hat mich berührt." Man kann aus Lonergans Einsichten über seine Figuren heraushören, dass er vom Schreiben kommt. Er trägt deren Widersprüche gerne selber aus.

Five Easy Pieces, Bob Rafelsons großartige Charakterstudie aus der New-Hollywood-Ära, ist einer von drei Filmen, die er für sein Viennale-Tribute ausgewählt hat – auch weil er ein paar Dinge mit Manchester by the Sea teilt: "Dieser Mut, wie der Film von der Entscheidung des Mannes erzählt, seinem Leben den Rücken zu kehren!" John Fords My Darling Clementine sieht er jedes Jahr mindestens zwei Mal. Und Lewis Milestones' Arch of Triumph? "In dem Film steckt etwas über Antifaschismus, was sehr erwachsen ist. Etwas, was meinen Landsleuten gerade fehlt." (Dominik Kamalzadeh, 19.10.2016)