Kein Roman, aber trotzdem Buchpreis würdig: "Die Welt im Rücken".

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Thomas Melle schreibt in seinem Buch über seine manische Depression.

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Spätestens seit Bob Dylan den Literaturnobelpreis erhalten hat, stellt sich die berechtigte Frage, warum nicht auch Thomas Melles Buch über seine manisch-depressive Erkrankung dieses Jahr zum besten Roman im deutschen Sprachraum gekürt werden könnte. Thomas Melles Die Welt im Rücken ist kein Roman, aber galt schon vor der Nobelpreisentscheidung am vergangenen Donnerstag – zumindest in weiten Teilen des deutschen Feuilletons – als geheimer Favorit für den Deutschen Buchpreis. Wer dieses rasende Werk liest, bekommt einen nachhaltigen Eindruck davon, warum man das gerne glauben möchte.

Es gibt nicht viele Bücher, die, obwohl sie so gut geschrieben sind, so anstrengend zu lesen sind, wie Melles Die Welt im Rücken. Der Titel deutet hier nur an, mit welcher Wucht sich die andauernde Erschöpftheit und die Ausweglosigkeit durch die sich wiederholenden Episoden dieser psychischen und psychotischen Erkrankung schließlich auch auf den Leser ausbreiten. Und das, obwohl oder gerade weil Thomas Melle als herausragender Autor und nicht als Betroffener, bis zur Selbstaufgabe leidender Patient äußerst strukturiert vorgeht.

Schon früh stellt der Berliner Autor etwa die Frage nach einem Warum? Warum wird jemand manisch-depressiv, warum erkrankt jemand, wie es heute im Fachjargon heißt, an einer bipolaren Störung? "Monokausalität ist dumm, prinzipielle Antikausalität aber ebenso", analysiert er und beschreibt schonungslos alle die Umstände, die eine Kindheit zu einer unglücklichen machen. Melles Dasein ist schon früh "ein Schwall hinein in die Kleinbürgerkomplikation", und es sind genau solche und ähnliche Zuschreibungen, die das Buch so stark machen.

Bis zum Zusammenbruch

Überdies lässt er, der nach seinen ersten fiktiven Romanen (unter anderem Sickster von 2011 und Euro 3000 von 2014) mit dem jüngsten Buch eine nichtfiktive Chronologie der eigenen Krankheitsgeschichte versucht, die Leser niemals im Unklaren darüber, wo wir uns gerade befinden, auch historisch. So schreibt er etwa: "Im Fernsehen ging Helmut Kohl rasant in die Breite." Besser lassen sich die Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung nicht in einen Satz fassen.

Diese doppelten Böden, die von nun an auf Thomas Melle, den traurigen Protagonisten dieses heftigen Buches, krankheitsbedingt überall lauern, gibt es auch in der Erzählstruktur, die uns der Schriftsteller Thomas Melle gekonnt liefert. Diese Struktur umfasst mehrere Ebenen: zunächst den geglückten Versuch einer Beschreibung der inneren Verfasstheit eines manisch-depressiven Menschen in seinen verschiedenen Aggregatzuständen.

Dann zieht Melle immer wieder auch eine analytisch-erklärende Ebene ein – "Ihre Taten sind ihnen fremd, obwohl sie sich an sie erinnern können." Und nicht zuletzt streift Melle vor allem in seinen manischen Hochphasen durch das Internet oder durch Städte wie Berlin, Hamburg oder London und damit durch die Gesellschaft, in der für ihn durch seine paranoide Sicht auf die Welt nichts mehr ein Zufall ist. Alles ist für Melle mit allem verbunden – bis zum großen Zusammenbruch.

Keine Zeile Selbstmitleid

Melles erster Schub erstreckt sich auf über 140 Buchseiten, an deren Ende er "diesen Vorfall immer noch für singulär hielt". Dabei war alles nur ein Vorspiel für eine ab jetzt immer wiederkehrende Schleife aus langen Manien, drauffolgenden ebenso langen Depressionen, damit einhergehenden Schamgefühlen, bis irgendwann der Gedanke an Selbstmord kommt. Das alles immer begleitet von folgenschweren Nebenwirkungen wie Delirien, psychotischen Auftritten, dem Ende von Freundschaften, unlebbaren Liebesbeziehungen, verwüsteten Wohnungen bis zur unausweichlichen Einweisung in eine Anstalt: "Was eine Farce mein Leben war."

"Die Arbeit half", schreibt er über die oft auch langen Phasen zwischen dem Wahnsinn, in denen er wieder um ein normales Leben ringt. Er gewinnt Preise, schreibt Bücher und Theaterstücke, bevor es irgendwann wieder reingeht in die hoffnungslose Spirale aus Energie- und Aggressionsschüben, Rundumschlägen und Kreditkartenexzessen und Wahnvorstellungen, vor allem in Bezug auf Prominente.

Thomas Melles Hirn mäandert selbst krankhaft noch genialisch durch die Pop- und Kulturgeschichte. Trotzdem lässt der Autor keine Sekunde einen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Vorhabens, das alles aufzuschreiben. Das zu versuchen. Für sich und für uns – keine Zeile Koketterie oder Selbstmitleid. Im Gegenteil.

Verlorene Bibliothek

"Wie erzählt man von sich als einen Idioten?", fragt sich der Autor gegen Ende. Melle schreibt sich, je näher die Gegenwart, desto schwieriger findet er das, bis ins Jahr 2016 und zitiert Arno Schmidt: "Die Welt der Kunst und Fantasie ist die wahre, the rest is a nightmare." Bis heute leidet er an diesem Albtraum von Krankheit, nicht nur innerlich, auch sozial. Wenn Leute vor ihm warnen, fragt er sich: "Bin ich ein Aussätziger, habe ich eine krasse Krankheit?" Nimmt die Vorwürfe an und gibt sich gleich auch die Antworten: "Ja, bin ich. Und ja, habe ich."

Medikamente retten ihm das Leben, schreibt er und fragt sich aber gleich auch, um welchen Preis. Die bipolare Störung hat sein Leben weiter im Griff: "Die Rückfallquote ist trotz Medikation derart hoch, dass ich mich vor Furcht einfach für immer schlafen legen will." Thomas Melle schreibt mit diesem Buch um sein Leben, daran besteht kein Zweifel. Und er hat mit diesem Buch eine neue Gattung, wenn schon nicht ganz neu erfunden, so doch meisterhaft weiterentwickelt.

Symptomatisch, dass Melle sein Buch Die Welt im Rücken mit dem Verlust seiner Bibliothek beginnt, die er im Laufe seiner Krankheitsgeschichte Stück für Stück verscherbelt hat. "Die Bibliothek ist verloren", schreibt er am Ende, "aber in meinem Rücken wächst derzeit langsam eine neue heran." Das wünscht man diesem begabten Autor. Und den Buchpreis natürlich auch. (Mia Eidlhuber, 16.10.2016)