STANDARD: Angenommen, Sie müssten Wien verlassen. Wohin würden Sie gehen?

Molden: Nach Triest.

STANDARD: Weil es fast noch Österreich ist?

Molden: Weil es so herrlich ist. Und weil es dort das Meer gibt. Ich bin ja eigentlich ein Flussmensch, hauptsächlich brauche ich die Donau. Ich schwimme gern drin, aber auch am Ufer sitzen bewirkt viel. Die Donau ist beruhigend.

STANDARD: Beruhigt das Wissen, dass immer etwas nachkommt?

Molden: Die Bewegung ist das Beruhigende. Dass immer etwas nachkommt, und dass sich gleichzeitig immer was schleicht. In Kritzendorf bei Klosterneuburg kann man eineinhalb Kilometer von der großen Badewiese stromaufwärts in die Donau steigen, dann, Schwimmbewegungen fingierend, sich hinuntertreiben lassen. Da zieht dann die Küste mit ihren Pappellandschaften, mit ihren von Nackten oder Halbnackten besiedelten Buchten an einem vorbei. Man sieht das immer nur kurz, dann ist man wieder erlöst. Und kommt dann an seinem Badeplatz wieder heraus. Dasselbe geht aber auch, wenn man still am Ufer sitzt und nur aufs Wasser schaut.

Ernst Molden an einem seiner Lieblingsplätze in Wien: im Prater, gleich beim Lusthauswasser.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Als Kind haben Sie aus der Klosterneuburger Au Kaulquappen und Frösche gerettet und auf die neue Donauinsel verbracht ...

Molden: Ja, und da hat sich gerade ein Kreis geschlossen. Ein guter Freund und Autor meines Vaters war Ernst Trost, ein wahnsinnig lieber Mann. Wenn er bei uns daheim war und ich ihn traf, kam er zu mir und sagte: "Servas, Ernst." Und ich sagte auch: "Servas, Ernst" – und ich durfte das zu ihm sagen. Dieser Ernst war immer schon Besitzer eines Stelzenhauses in Kritzendorf, und ich habe es geliebt, wenn wir ihn besucht haben. Kaum war man durchs Türl durch, war da der Fluss, hat die Au angefangen, der Dschungel. Da konnte ich Kröten und Frösche fangen und herzeigen, das war meine Initiation mit der Donau. Und heuer im Sommer ist der Ernst genau in diesem Bad in der Donau gestorben. Genau dort, wo er immer am liebsten war. Jetzt ist nur noch einer von uns zweien an der Donau.

STANDARD: Sie mögen die Ränder Wiens am liebsten. Weil da die Welt am zerbrechlichsten ist?

Molden: Ich komme ja vom Rand, aus dem 19. Bezirk. Der ist urwienerisch, aber auch weit draußen und zudem eine Wildnis. Deren einzige Indigene waren immer die Weinbauern. Die Pioniere, die nachgekommen sind, waren die Neureichen der jeweiligen Generation. Ab dem Biedermeier sind immer die aktuell G'spritzten nach Döbling hinausgezogen. Wir haben bis 1982 in Döbling gelebt, der Konkurs meines Vaters hat uns dann aus dem Neunzehnten quasi wieder hinausgespieben. Als junger Mann habe ich dann zehn Jahre lang total in der Mitte Wiens gewohnt, in der Köllnerhofgasse ...

STANDARD: ... und ein Jahr lang in einem Dachkammerl im Stundenhotel Orient am Tiefen Graben, neben dem Holocaust-Überlebenden Herrn Arthur.

Molden: Genau. Ende der 80er war der erste Bezirk noch ein steinerner, leerer, grauer Bezirk – und billig. Im Dritten, wo ich jetzt lebe, bin ich aber am glücklichsten.

STANDARD: Müssten Sie Wien verlassen, würden Sie sich also an der Donau von der Stadt verabschieden?

Die Galopprennbahn in der Wiener Freudenau. Die 1839 eröffnete Anlage mit ihren Logen steht unter Denkmalschutz.
Foto: Newald

Molden: Ich würde mich hier verabschieden, im Prater. Weil hier alles schon gerinnt, hier ist das Wienerische, ist die Kultur schon durchtränkt von der Aulandschaft. Das Lusthauswasser da drüben ist der letzte erhaltene natürliche Altarm südlich der Donau. Da kann man sich das Ur-Wien, diesen malariaverseuchten, von Gelsen durchflogenen und von Germanen durchpflügten Sumpf, als den die Römer Wien vorgefunden haben, noch vorstellen. Auf der anderen Seite die Kaiserloge der Galopprennbahn, hier dieses mir liebste Wirtshaus von Wien. Da hab ich alles auf einem Fleck. Ich würde also hier ein Surschnitzel essen, einmal ums Lusthauswasser gehen – und dann nach Triest fahren. Aber es wird nicht sein müssen.

STANDARD: Das hätten viele Syrer vor ein paar Jahren auch gesagt.

Molden: Ich habe, aus anderen Gründen, oft Fluchtgedanken – und stelle mir täglich die Frage: Wo würde ich hingehen, und welche Gitarre würde ich mitnehmen?

STANDARD: Sie haben mehr als 20?

Molden: 25. Und ich würde meine kleine, alte, zerschrammte Wiener Biedermeiergitarre mitnehmen. Die ist aus den 1860ern, hing lange als Deko in einer Wirtshausstube und hat dabei ungespielt eine riesige Stimme entwickelt. Setzt sich durch. Mein neues Album habe ich fast ausschließlich auf dieser Gitarre gespielt.

STANDARD: Ihr neues Album mit Nino aus Wien heißt "Unser Österreich". Zynisch gemeint, der Titel?

Molden: Nein, das "unser" bezieht sich auf die Schnittmenge, auf die wir uns verständigt haben. Aber es kokettiert auch bewusst ein bisschen räudig mit Heimatvokabular.

STANDARD: Sie sagen: "Flüchten ist eine der mutigsten Taten, die man setzen kann."

Molden: Das ist wohl so. Und man sieht es in den Gesichtern der Flüchtlinge: Verzweiflung, Ratlosigkeit, aber auch die Spur dieser Courage, den ersten Schritt des Weggehens gesetzt zu haben. Mich fasziniert ja auch, dass es fast alle Flüchtlinge nach Deutschland zieht. Ich würde definitiv nicht nach Deutschland flüchten, aber es ist natürlich auch die Frage, wovor man flüchtet. Vor einer Umweltkatastrophe, vor einem Bürgerkrieg, vor der Armut. Und natürlich sind wirtschaftliche auch existenzielle Fluchtgründe. Tatsache ist doch: Da, wo man ist, kann man nicht mehr weiterleben. Das führte zum Krepierenmüssen, und wenn das vor der Tür steht, muss man weg. Und der Flüchtling lässt sein ganzes Leben, bis auf ein paar Sackerl, hinter sich und bricht auf. Das nimmt mich so ein für diese Menschen. Ich finde den Menschen grundsätzlich am interessantesten, wenn er so reduziert ist.

STANDARD: Wenn der Mensch am Rande seiner Persönlichkeit angelangt ist, ganz auf sich zurückgeworfen?

Molden: Ja, wenn man auf sich zurückgeworfen ist. Bei mir ist das schon beim Reisen der Fall. Mein Leben ist sehr auf Wien konzentriert: Hier ist meine Familie, meine Hacke (Arbeit, Anm.) ist extrem vernetzt mit den Stimmungen der Stadt, ich spiele in Österreich und Süddeutschland. In Wien wird mir aber nicht fad: Wien ist unspießig und uneng. Wenn man es richtig benützt, lässt einen Wien schön in Ruh'.

STANDARD: Wie benützt man Wien falsch?

Molden: Indem man sich zum Beispiel mit der Kulturschickeria einlässt. Dann quält einen Wien genauso wie Baden oder Wels. Je elitärer Wien wird, je näher man an die Spitze kommt, umso spießiger, umso kleiner wird es. Aber dort, wo Wien schön durchmischt ist – dort ist es frei.

STANDARD: Leute wie der Sänger Andreas Gabalier bedienen in Ihren Augen eine "Heimatindustrie". Sie kritisieren einen "mitteleuropäischen Heimatfundamentalismus" und, dass Heimat bei uns durch Ausschließen anderer Menschen definiert wird.

Molden: Neben diese mitteleuropäische Heimatindustrie kann man den Jihadismus stellen. Nicht in Bezug darauf, was sie anrichtet, sondern in Bezug darauf, was sie antreibt. Es geht um die Behauptung einer Gruppe, das Richtige in ihrem Besitz zu haben, ums wirtschaftlich oder sozial Verächtlichmachen und um brutalen physischen Ausschluss des Nichtdazugehörigen. Das geschieht gerade. Das aber hat mit Heimat nichts zu tun. Wobei ich dieses Wort nicht mag, ich finde das schöne österreichische "Zuhaus" besser.

STANDARD: Je Heimweh gehabt?

Molden: Richtiges Heimweh habe ich erst, seit ich verheiratet bin und Familie habe.

STANDARD: Das kann also schon in Wien-Simmering auftreten?

Molden: Das tritt oft schon im ersten Bezirk ein, aber das ist eher ein Fluchtreflex.

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Verleger und Widerstandskämpfer Fritz Molden: Bei seinem Begräbnis 2014 hat Ernst Molden Musik gemacht. Unter anderem hat er das Lieblingslied seines Vaters, "Bei mir bistu shein" (Bei mir bist du schön), gesungen.
Foto: dapd

STANDARD: Nach der Pleite Ihres Vaters und seines Verlags übersiedelte Ihre Familie von Wien-Döbling nach Alpbach ...

Molden: Da hatte ich aber nie Heimweh. Denn die Übersiedlung war eher ein Heilsversprechen dafür, dass meine Eltern in meine Nähe kommen, weil in Wien waren sie das nicht. Unser Haus war zweigeteilt: unten Kinder, Kindermädel und Haushälterin – und die Oma, wenn sie da war ...

STANDARD: Die Hernalser Oma, die aber im Ersten gewohnt hat ...

Molden: Ja, und oben waren die Eltern, ihr Salon und Ihre Partys für den Verlag.

STANDARD: Apropos: Wie war Friedrich Torberg? Ihn haben Sie ja damals kennengelernt.

Molden: Ich werde das Bild nie vergessen: wie er mit seiner Frau Marietta, die ein seidenes Kopftuch und schwarze Sonnenbrillen trug, in seinem Cabriolet wegfährt. Einmal bin ich in den Salon gekommen, als er noch da war – und der Vater wollte mich rauswerfen, aber Torberg meinte, ich soll doch dableiben. Sie haben einander Geschichten erzählt, jüdische Witze. Bei einem guten jüdischen Witz weiß man ja lang nicht, ob es nicht eine wahre Geschichte ist. Die Pointe kommt sehr unauffällig daher.

STANDARD: Die Geschichte hört einfach auf ...

Molden: ... und meistens tragisch.

STANDARD: Wie das Leben halt.

Molden: (lacht) Torberg und mein Vater, erzählend: Da war einfach ein guter Sound in der Luft. Und mein Vater ist dabei sanfter geworden.

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Helmut Qualtinger im Jahr 1985, ein Jahr vor seinem Tod.
Foto: Didi Sattmann / Imagno / picturedesk.com

STANDARD: Qualtinger haben Sie zwar nicht gekannt. Aber dafür haben Sie seine Liedertexte auswendig gelernt?

Molden: Ja, weil Qualtinger und Hildegard Knef die einzigen Musikschallplatten waren, die meine Eltern besaßen. Aber ich habe Qualtinger einmal die "Letzten Tage der Menschheit" lesen gesehen – und dieses bebende Gesicht, die wackelnden Lefzen, seine Kurzatmigkeit, gleichzeitig dieser schwere Körper, der aber mit agilem Übermut von einer Figur in die nächste springt und sich die Sprache grapscht. Dieser bewegungslose Mann, dessen Goderl (Doppelkinn, Anm.) gebebt hat und der geschwitzt hat – und diese Stimme: Die Stimme hat das alles beinhaltet, der Qualtinger hat in Zungen gesprochen.

STANDARD: Weil wir gerade bei Ihrer Familie waren: Ihr Bruder hat Geschichte in New Orleans gelehrt, nach einem Besuch bei ihm sagten Sie, "Der Blues ist bazweich ...

Molden: ... baazwaach mit vier a ...

STANDARD: ... und brutal: Er muss ein Wiener sein." Ist der Wiener so anders als der Restösterreicher?

Molden: Ich sage so: Es sind in Wien Menschen möglich, die anderswo in Österreich kaum möglich sind.

STANDARD: Jetzt kommt gleich Ihr Reifenhändler.

Molden: Genau. Mein Reifentandler ist wirklich so ein feiner Mensch. Er ist down to earth, hat die ganze Musik und Weisheit des neuzeitlichen Wiens in sich gespeichert und macht doch nichts anderes als Reifenwechseln. Aber so, wie er redet, so fein, wie er ist, und so gfeanzt, wie er auf eine ganz noble Art ist, kann es ihn nur in Wien geben.

STANDARD: Wie erklären Sie Nichtwienern das Wort gfeanzt?

Molden: Es gibt kein Synonym: schlau, vif, gleichzeitig streetwise, ein bissl hinterhältig und auf seinen eigenen Vorteil bedacht, dabei aber trotzdem einen sympathischen Eindruck erwecken wollend.

STANDARD: Als Junger schrieben Sie Romane, heute sagen Sie sinngemäß, das hat mangels Lebenserfahrung nicht klappen können.

Molden: Ich habe lange gebraucht festzustellen, dass man ohne ein Leben auch kein Werk haben kann. Man muss dafür eine gewisse Zeit in existenziellen Obliegenheiten verbringen; bei mir war das die Familiengründung.

Franz Kafka, in den Augen Moldens "ein Frühvollendeter". Der Schriftsteller starb mit 40 Jahren in Kierling bei Klosterneuburg.

STANDARD: Man schreibt nur gut, wenn man weiß, wie es bei einem Elternabend zugeht? Kafka konnte es offenbar auch so.

Molden: Aber nein. Bei mir war es so: Meine Kunst wurde besser, als ich begonnen habe, mich zu fürchten. Als ich Verantwortung für meine Familie übernommen habe und, vorübergehend, Existenzängste bekam. Und noch zu Kafka: Er war auch früh vollendet. Und er konnte nie glücklich sein mit dem, was er erreicht hat.

STANDARD: Man muss sich fürchten, damit man ernsthaft wird?

Molden: Man muss sich fürchten, damit's um was geht.

STANDARD: Muss man nicht lieben, damit's um was geht?

Molden: Stimmt. In einer besseren Welt als der sterblich-menschlichen gäbe es ja vielleicht Liebe ohne Existenzangst. Ewige Liebe? Hamma net. Spielma net.

STANDARD: "Melancholie ist die Kunst der Verfeinerung", sagen Sie. Die Schwermut ist schon etwas sehr Wienerisches?

Molden: Ich weiß es nicht. Ich habe Melancholie jedenfalls sehr gern, bin lieber traurig als lustig.

STANDARD: Sie fürchten sich eher vor lustigen Leuten. Warum?

Molden: Ich fürchte diesen kollektiven Humor, bei dem das Lachen zum Zähnefletschen wird, das es ja eigentlich ist. Dieses Lustigsein, zumal in größeren Gruppen, geht immer auf Kosten anderer.

STANDARD: Sehr negativ, heute.

Molden: Aber nein. Es gibt auch sehr feinen Humor, und der tut niemandem weh. Und das Ideal des Humors, des Lachens schlechthin ist ja, wenn man es schafft, über die eigene und unser aller Sterblichkeit zu lachen. Über den Tod zu lachen. Wenn man dort hinkommt, nimmt man niemandem was weg, schließt man niemanden durch Lachen aus, sondern nimmt es als Ticket in die Ewigkeit. Diese Heiterkeit würd' ich gern beherrschen.

STANDARD: Dafür sind Sie zu jung.

Molden: Diese Heiterkeit kommt bei jedem anders, bei vielen nie.

STANDARD: Weil wir uns selbst zu ernst nehmen?

Molden: Ja, und sie setzt voraus, dass wir das schätzen, was wir haben. Wenn man sich einmal am Tag bedankt, ist das schon eine sehr gute Vorübung.

STANDARD: Klingt sehr katholisch.

Molden: Na ja. (lacht)

STANDARD: Passt zur letzten Frage: Worum geht's im Leben?

Molden: Dass man es schafft, immer grad dort zu stehen, wo man glücklich sterben kann. Wo einen das Ende jedenfalls an einem gelungenen Punkt ereilt. (Renate Graber, 19.9.2015)