C.s Mail las sich fast zufrieden. "Bin sehr beruhigt, dass es bei dir auch so ist", schrieb er. C. ist kein neidiger oder hämischer Mensch. Im Gegenteil. Darum ließ mich sein Mail Aufatmen. Und lachen: Offensichtlich hatten wir den gleichen selben Irrtum gelebt - mit vertauschten Rollen: "Dachte, du bist viel besser im Training als ich", stand da. Um "besser" geht es nicht. Aber es ist doch spannend, die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu erleben.

"Im Moment geht's zach", schrieb C. Das war seine Antwort auf mein Klagelied: Ich war am Boden. Subjektiv und objektiv: "Laufen, locker, frequenzbetont", hatte der Plan gesagt. Eine Stunde. Sonst ein Kindergeburtstag: Entspanntes Traben - mit kürzeren, also schnelleren, Schritten. Nichts Aufregendes. Höhere Schrittfrequenz heißt halt höherer Puls. Tempovorbereitung. Ausdauerverbesserung.

Nur: Es war die Hölle. Der Puls schnalzte nach oben. Und zwar in Tempobereiche, die sonst den Ruhepuls kitzeln. Füße und Beine schwer. Kopf woanders. Von Rhythmus keine Spur: Jeder Schritt kostet Überwindung. Spaß? Flow? Nada. Manchmal, muss man sich überwinden. Reinkommen. Aber das hier war anders: Es war elend. Und wäre da nicht ein Plan mit einem Ziel, hätte ich abgebrochen. Bloß: Ich hatte - arbeitsbedingt - ohnehin schon "geschwänzt“. Also Durchbeißen: Solche Tage gibt es. Morgen ist alles anders.

Mitnichten. Oder eigentlich: Stimmt. Es war noch schlimmer. Intervalltraining. Sechs mal drei Minuten volle Ausbelastung: Intervalltraining muss heftig sein. Währenddessen darf man fluchen. Dem Planersteller (in meinem Fall: der Planerstellerin) die Pest an den Hals wünschen. Wozu der Tanz? Den Blödsinn braucht keiner! Außer mühsam ist das nur mühsam ... und so weiter.

Doch danach spürt man: Der "Blödsinn" bringt es. Tempo. Tempohärte. Mehr Ruhe und Ausdauer bei den niedrigen und mittleren Geschwindigkeiten. Außerdem ist es geil zu spüren, was geht, wenn man glaubt, dass nix mehr geht. Also: Gib ihm.

Bloß: Da war nix. Da ging nix. Subjektiv - und bei einem Blick auf den Tacho, auch objektiv: Der Puls war wo er sein sollte - am Anschlag. Aber das Tempo: Ich lief mein Halbmarathontempo. Ein Tempo, das ich sonst über eine Stunde vierzig halten kann. Jetzt schaffte ich kaum sechs Mal drei Minuten.

Ich war verzweifelt: Es gab keinen Grund. Ich war gesund. Das Pensum war normal. Wieso also? Das war doch lächerlich! Sandrina Illes, meine Trainerin, lachte nicht, sie drückte die Stopptaste.

Sandrina Illes und Thomas Rottenberg.
Foto: Thomas Rottenberg

Respektive die Pausentaste: Das niedrige Tempo, sagte sie, irritiere sie weniger. Weniger als dass zwischen den Intervallen der Puls nicht ordentlich runter kam. Das sei ein Zeichen: "Runter vom Gas. Richtig runter." Dann die Rüge: "Ich hab Dir schon oft gesagt, dass du lockere Einheiten viel zu schnell läufst." Locker, wiederholte die Duathletin per Mail (sie war gerade bei den Duathlon-Europameisterschaften), bedeute locker. Also langsam. In meiner Altherrenliga sechs Minuten am Kilometer "und darunter: Nimm die langsamsten Laufpartner, die du finden kannst."

Die Trainerin war noch nicht fertig: Wir klopften meinen Kalender der letzten Wochen durch. Beim Planschreiben hatte sie den Goretex-Viertagesevent und den Mühlviertel-8000-Spaß eingeplant. Sowohl in der Vorbereitung als auch bei den Erholungsphasen. Und gefragt, ob da rundherum irgendwas zu beachten sei. "Nö. Alles ganz normal." Aber: War das so? Und vor allem: Hatte ich nach den Events Pausen gemacht? "Klar, das Regenerieren ging sich mit den Arbeitsplänen super aus - ich hatte so viel zu tun, dass ich eh kaum zum Trainieren gekommen bin.“

Alpine Quattrathlon
Foto: foto: © kelvintrautman|nikon|lexar for gore

Virtuell flogen mir jetzt Häferln und Teller um die Ohren. Dann kam die Aufforderung, präziser zu werden. Danach war ich dann nicht mehr überrascht. Oder doch: Ich wunderte mich, dass ich überhaupt bis zum zweiten Intervall des Vortages gekommen war.

Denn unmittelbar nach dem Goretex-Ding hatte ich acht richtig harte Arbeitstage gehabt. Dreimal Pendeln durch halb Österreich. Arbeitstage von sieben bis 23 Uhr. In Pausen dazwischen war ich gelaufen. "Locker." Danach in Wien: Aufholen, was liegen geblieben war. Am Trainingsplan stand: Rad plus Laufen.

Schließlich war dann der Mühlviertel-Event: Freitagfrüh laufen in Wien, zu mittag nach Freistadt. Bis Samstagnacht ebendort, dann zurück nach Wien. Sonntagfrüh: ein längerer Auslockerungslauf. Sonntagmittag nach Dornbirn. Montag bis Mittwoch je zehn bis zwölf Stunden Job. Dienstagfrüh: Laufen. Mittwochnacht zurück nach Wien. Illes: "Und du wunderst dich ernsthaft, dass du am Donnerstag wie ein Zombie rennst und am Freitag bei den Intervallen eingehst?"

Sie war noch nicht fertig: "Wie schläfst du eigentlich? Und was isst du?" Touché: Die erste Nacht im Hotel ist selten erholsam. Futter? Zwischendurch. Schnell. Das Gesündeste sind die Kartons, auf denen die Pizzen liegen. Und aus dem Alter, wo Kaffee und Energydrinks meinen Schlaf nicht beeinflussen ... und so weiter.

Alpine Quattrathlon
Foto: foto: © kelvintrautman|nikon|lexar for gore

Illes befahl: "Pause. Beine hoch. Nichts tun. Wenn du dich nicht 150 Prozent fit fühlst, brichst du sofort ab." Ein Tag am Sofa. Im Park. Im Kaffeehaus. Mit Freunden im Garten. Fein. Am Nachmittag wurde ich hibbelig: Aus dem Vorzimmer zwinkerte das Rennrad. Bouldern? Schwimmen? Ich schaute in Illes' Mail. "Komplementärsport ist gestrichen.“ Man darf seine Trainerin auch hassen. Manchnmal.

Ich jammerte - und C. antwortete. Dass es auch beim ihm schlecht laufe. Ich musste keine Sekunde nachdenken, um zu wissen wieso. Ich hatte es ihm ja vorhergesagt! C. hatte am Wochenende eine mehr oder weniger durchgehende 72-Stunden-Rot-Kreuz-Freiwiliigendienstschicht am Frequency-Festival geschoben. Davor hart und viel gearbeitete. Ähnlich wie ich. Auch er steckt mitten im Marathontraining und hat hohe Trainingsumfänge. Plus eine kleine, sich ziehende Verletzung. War der Mann blöd? Ein Blinder sah, dass das nicht schlau war. Dass er nicht nur auf den Trainings- sondern den Gesamtplan schauen müsse, und so weiter.

Mühlviertel 8000
Foto: Thomas Rottenberg

Wir lachten beide: Natürlich wissen wir das, was wir uns und einander an die Köpfe warfen, selbst. Aber wollen wir es wissen? Es wahrnehmen? Wahr haben? "Jeder Depp kann sich einen Trainingsplan aus dem Netz runterladen und so adaptieren, dass er danach trainieren kann“, hat mir mal ein Sportmediziner gesagt, "aber das ist halt nicht alles: Die meisten Leute brauchen jemanden, der ihnen sagt, was sie im Grunde eh wissen. Aber verdrängen, wenn sie es nicht hören wollen.“ Ob ich das "Berater“, "Coach“ oder "Hofnarr“ nennen wolle, sei meine Sache.

Nach einem Tag Full-Stop zog ich die Laufschuhe an. Zwei Stunden 15 Minuten standen am Plan: "Wenn es sich nicht gut anfühlt, brich sofort ab." Ich schlich. Sechser-Pace. Großmütter überholten mich. Nordic-Walking-Senioren klopften mir auf die Schulter: "Gut, dass Sie sich überhaupt bewegen, junger Mann. Das wird schon." Doch es funktionierte und machte Spaß: Ein erholsamer, feiner Lauf - mit dem Tempo der Kontinentaldrift.

Auf Facebook hagelte es Trost: "Letztens hat sich so ein "Turboathlet" in meinen Windschatten gehängt - für mindestens 15 Min - und als ich mich dann umdrehte, ihn anlächelte und meinte, dass er doch bitte lieber neben mir laufen sollte statt mir beinahe auf die Fersen zu treten - hat er sich gefreut und geantwortet, "das ist super, ich darf nämlich nicht zu schnell laufen, trainiere für den Marathon, aber dein Tempo ist genau richtig für mein Langsamtraining", schrieb eine Freundin.

Einer aus der Ultraläufer-Abteilung erklärte: "Das Gefühl, wenn dich Omas am Rollator und tratschende Damen mit Stecken überholen, kenne ich. 'Ich kann eh schneller, darf aber nicht' - das wollte ich mir schon öfter aufs Leiberl drucken."

Ich habe es gestern wieder versucht: "Eine Stunde. Einlaufen, 30 Minuten mit etwa 5:00 pro Kilometer, Hohe Frequenz. Auslaufen.“ stand am Plan. Ich war skeptisch. Aber siehe da: Es ging - ich lief. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 28.8.2014)