Stephan Hilpold über die Liebesbeziehung der Mode mit dem Internet.

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Ob man sie noch Kind nennen darf, darüber gehen die Meinungen auseinander. Was ihr Alter anbelangt, ist die 13-jährige Tavi Gevinson bereits ein Teenager, was ihr Äußeres anbelangt, aber noch ganz und gar Kind. Ihre Brillen sind für das kleine Gesicht viel zu groß, ihre Gesichtszüge weich und kindlich. Sitzt sie in der ersten Reihe bei einer Modeschau, dann bräuchte sie ob ihrer Körpergröße eigentlich einen Polster.

Bei Modeschauen saß Tavi in den vergangenen Wochen ziemlich häufig. Zusammen mit ihrem Vater war das Mädel aus dem Vorort von Chicago nach New York gereist, um sich die Laufstegschauen von Marc Jacobs, Y3 oder Ohne Titel aus der Nähe anzuschauen - und nicht nur im Internet wie in den vergangenen eineinhalb Jahren. Seit damals hat Tavi einen eigenen Modeblog - und kommentiert, was ihr tagtäglich in anderen Foren, auf der Straße oder in Aussendungen vor die Augen kommt.

Das ist mittlerweile ziemlich viel. An manchen Tagen stellt die 13-jährige im Akkord Bilder und Texte ins Internet. Sie plündert die Lookbooks der Modehäuser und die Editorials der Magazine, fotografiert Passanten auf der Straße oder gleich sich selbst. Dann zieht sie sich das neueste Kleid über, das sie bei einem Garagenkauf erstanden hat, behängt sich mit überdimensionierten Modeschmuck und setzt sich einen schrägen Hut auf. Das finden mittlerweile viele Menschen so interessant, dass sie Tavis Blog tavi-thenewgirlintown.blogspot.com täglich anklicken. Eineinhalb Millionen Zugriffe verzeichnet Tavis Homepage im Monat.

Auf dem Cover von "Pop" und "Love"

Sie selbst ist darüber zum Star geworden. Gleich zwei große englische Modemagazine hievten sie in den vergangenen Wochen aufs Cover (Pop und Love), nach den Modeschauen wird sie regelmäßig von Reportern umringt. Was, fragt man sich, ist bloß in die Modewelt gefahren? Sie lauscht der Meinung eines nerdigen Teenagers genauso ergriffen wie den Verlautbarungen von Kaiser Karl oder Königin Anna. Irgendetwas scheint i i da aus dem Lot zu sein. Das Internet hat die Machtverhältnisse in der Modebranche durcheinandergebracht.

"I love you Bryanboy" stand auf dem zerknitterten Zettel, den der Designer Marc Jacobs während der New Yorker Fashion Week im Februar in die Kameras hielt. Bryan ist ein Chanel-Taschen schwingender Filipino, der mit Brüno nicht nur den Anfangsbuchstaben seines Vornamens teilt und einen der einflussreichsten Modeblogs (bryanboy.com) betreibt. Bei der jüngsten Modeschau des Designerduos Dolce & Gabbana in Mailand saß er mit seinem Laptop gleich neben Suzy Menkes (International Herold Tribune), Michael Roberts (Vanity Fair) und Anna Wintour (US-Vogue) in der ersten Reihe. Das war eine Art öffentlicher Ritterschlag der Branche und symbolisch mindestens genauso bedeutend wie die Liebeserklärung von Marc Jacobs.

Die Welt der Blogs wird nach Jahren der Ablehnung ernst genommen. Das geschieht nicht freiwillig. Die Mode kommt um die wackeligen Internet-Bilder und die selbstbezüglichen Verlautbarungen der zumeist sehr jungen Blogger schlichtweg nicht mehr herum. Blogs wie stylebubble.co.uk, ashededviewonfashion.com oder das österreichische stylekingdom.com sind schneller und authentischer, als es die herkömmlichen Magazine je sein könnten. Sie erstellen keine To-do- und Not-to-do-Listen, klären kaum über Trends auf, geben höchstens einmal einen Tipp. Sie bieten Einblicke in eine durch und durch subjektive Welt. Damit erreichen sie jene Modekonsumenten, die sich im Internet nicht nur mit ihren Freunden verabreden, sondern auch mit ihnen über ihr Outfit debattieren wollen. Und das tagtäglich.

Persönliche Vorlieben

Monatlich oder saisonal erscheinende Modemagazine helfen dabei wenig. Sie befinden sich zudem fest in den Klauen der Anzeigenkunden, die nur dann Anzeigen schalten, wenn ihnen genügend redaktioneller Raum eingeräumt wird. Kleine Designer, ungewöhnliche Trends, persönliche Vorlieben haben in dieser Struktur kaum Platz - im Unterschied zur Welt der Blogs.

Tavi Gevinsons Aufstieg zum Liebling der Modewelt hat genau damit zu tun. Vom H&M-Zara-Gap-Mainstream ist die 13-jährige Bloggerin meilenweit entfernt. So ungewöhnlich ihr Alter, so bemerkenswert ist ihr Modegeschmack. "Zieh dich an, wie es dir gefällt" ist ihr Mode-Mantra. Sie mag lustige Stolas, schlüpft in zweifarbige Strumpfhosen oder trägt Bommel-Haarschmuck. Hauptsache, ihr Look ist ungewöhnlich, bunt und fällt auf.

Als Vogelscheuche kommt Tavi trotzdem nicht daher. Dafür kennt sie sich in der Welt der Looks und Styles viel zu gut aus. Für eine 13-Jährige ist das ziemlich ungewöhnlich. Nicht nur dass sie eine große Liebhaberin der japanischen Avantgarde ist, sie hält in ihrem Blog auch all jene Namen hoch, die in der Modewelt derzeit on vogue sind. Sie posiert in Klamotten der Rodarte-Schwestern, stellt die Show von Alexander Wang ins Internet, begeistert sich für Alexander McQueen. Das führte dazu, dass die Identität der Bloggerin angezweifelt wurde - und manche mutmaßten, dass hinter der 13-Jährigen ein Modeinsider stecken müsste.

Ein Käfig voller Narren

Was auch immer an dieser Theorie dran ist: Sie bringt den Vorbehalt der Branche gegenüber der neuen Konkurrenz aus dem Internet auf den Punkt. Noch in der aktuellen GQ Style bezeichnet man die diversen Blogs als "sinnentleert" und als "unendlich weit von einem ernst zu nehmenden Stilverständnis entfernt". "Genau genommen", schreibt die deutsche Männerzeitschrift, "erinnert die Style-Blogger-Szene in ihrer permanenten Aufgeregtheit an die hysterische 70er-Jahre-Komödie Ein Käfig voller Narren."

Unabhängig davon, dass "permanente Aufgeregtheit" in der Modewelt eher als Kompliment denn als Vorwurf zu sehen ist, kann man Blogs (vor allem die beliebten Streetstyle-Seiten wie thesartorialist.com, facehunter. blogspot.com oder stilinberlin.blogspot.com) auch als eine moderne Variante des Flaneurs beschreiben. Baudelaire wanderte Ende des 19. Jahrhunderts durch die Straßen von Paris und hielt seine Beobachtungen literarisch fest. Die Stiljäger von heute haben es eiliger: Sie fotografieren all das, was ihnen unter die Nase kommt, und stellen es Minuten später ins Netz. Dabei kommt viel Mist zusammen - aber auch eine gute Zusammenschau, welche Stile sich aus der Masse herausdestillieren - und die Modemagazine in Zukunft aufgreifen werden. Diese haben ihre Funktion als Trendsetter schon lange an Leute wie Tavi abgeben müssen. Der Kampf, wer am schnellsten auf die neuesten Entwicklungen reagieren kann, ist zugunsten der Blogger entschieden worden.

Sind die Magazine clever, arrangieren sie sich mit ihrer neuen Konkurrenz. Das scheint auch im Falle von Tavi passiert zu sein. Das jüngste Pop-Magazin hat der 13-Jährigen das Cover und eine ganze Fotostrecke gewidmet - und sie gemeinsam mit anderen jungen Bloggern zu einer Diskussionsrunde geladen. Dort spricht das Mädel aus dem Vorort von Chicago auch über die Ängste, die sie angesichts der immer größer werdenden Blogger-Szene beschleichen: "Ich fürchte mich vor dem Moment, an dem Föten anfangen zu bloggen." Für Vierzigjährige ist diese Vision in Gestalt von Tavi bereits Realität geworden. (Stephan Hilpold/Der Standard/rondo/09/10/2009)