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Familie im Siegesrausch (v. re.): Tochter Sümeyye, Sohn Bilal, Tayyip Erdogan, Ehefrau Emine, Tochter Esra, Schwiegersohn Berat

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Am Morgen beim Bäcker ums Eck ist schon der neue Wind zu spüren. "Eine interessante Nacht, nicht wahr?", fragt der Kunde und lässt sich Brot und Simit-Ringe einpacken. "Jaja!", antwortet der Bäcker mit gespieltem Enthusiasmus, "die Sommerzeit! Alle sind sie heute eine Stunde zu früh in den Laden gekommen und haben sich dann gewundert."

Im Fenster steht ein kleines Atatürk-Bild mit einer blinkenden Lichterkette um den Rahmen. Aber über Politik wird nach dieser Wahlnacht nicht mehr gesprochen. Tayyip Erdogans Bulldozer-Triumph öffnet den Weg zu weiteren zehn Jahren an der Macht - bis über 2023 hinaus, dem 100. Jahr der Republik, als nächster Staatschef oder wie bisher als Regierungschef: Es ist einerlei.

Die Einführung der Sommerzeit ist in der Türkei der Wahlen wegen um eine Nacht verschoben worden, vom Sonntag auf den Montag. Der Energieminister hat es so angeordnet und damit nur Verwirrung gestiftet.

Am Wahlsonntag waren die Mobiltelefone schon eine Stunde weiter. Auch das mag die Rekordbeteiligung der Türken erklären: 87 Prozent stimmten bei den Kommunalwahlen ab und verschafften den regierenden Konservativ-Religiösen einen neuen, den achten Wahlsieg in Folge. "Die alte Türkei gibt es nicht mehr. Hier ist die neue Türkei!", rief Tayyip Erdogan in der Nacht vom Balkon des Betonpalasts in Ankara, der seine Partei beherbergt. "Die Türkei ist stolz auf dich!", schallte es von der Menschenmenge unten zurück.

Kampf und Vernichtung

2011 war Erdogan hier schon gestanden, nach einem fulminanten Sieg bei den Parlamentswahlen, bei dem er den Stimmenanteil für seine AKP gar noch auf knapp 50 Prozent vergrößern konnte. Damals kündigte Erdogan Reformen für alle Türken an. Nun spricht er von Kampf und Vernichtung.

Drei Monate Destabilisierungskampagne liegen zurück. Das einflussreiche Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen hat mit Erdogan gebrochen: Der Premier ist autoritär geworden, die EU kümmert ihn nicht länger, mit der Schließung der Nachhilfeschulen, der wichtigsten Rekrutierungsbecken der Gülen-Bewegung, will er dem Netzwerk das Genick brechen. Als Antwort kamen die Korruptionsermittlungen gegen die Regierung und die Flut von abgehörten Telefongesprächen des Premiers. "Sie werden dafür bezahlen", drohte Erdogan vom Balkon in Ankara. "Von morgen an werden einige fliehen."

"Basçalan" taufte ihn die Opposition wegen der Korruptionsvorwürfe, "Chefdieb", eine Verballhornung von "Basbakan", Erdogans offizieller Amtsbezeichnung als Premierminister. Doch der Feldzug des nun 60-jährigen Regierungschefs gegen Internet und Widersacher in Polizei, Justiz und Politik zahlte sich aus.

Wieder zugelegt

45,6 Prozent erreichte die AKP im Landesdurchschnitt - sieben Prozentpunkte mehr als bei den Kommunalwahlen 2009 und fast so viel wie bei ihrem Triumph bei den Parlamentswahlen vor drei Jahren. Die Opposition scheiterte mit ihrem Versuch, den Konserverativ-Religiösen die Millionenstadt Istanbul abzunehmen. Erdogans Mann im Rathaus, der Architekt Kadir Topbas, bekam für seine dritte Amtszeit 48,1 Prozent. Sein Gegner Mustafa Sarigül erzielte mit 40,1 Prozent zwar das seit Jahren beste Ergebnis gegen einen AKP-Bürgermeister; doch die Mehrheit in Istanbul stammt mittlerweile aus dem konservativen Anatolien.

Stromausfälle und Manipulationsvorwürfe gab es die ganze Wahlnacht über. Aber Montagmorgen war auch klar, dass die Kemalisten der CHP in der Hauptstadt Ankara verloren haben. Der umstrittene AKP-Bürgermeister Melih Gökçek wurde mit 30.000 Stimmen Vorsprung für eine fünfte Amtszeit gewählt. Izmir dagegen blieb der CHP. Und drei Frauen führen erstmals türkische Großstädte: Fatma Sahin (AKP) in Gaziantep, Gültan Kisanak in Diyarbakir (BDP), Özlem Çerçioglu (AKP) in Aydin. (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 1.4.2014)