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Ein Einzelfall zu sein ist medizinisch betrachtet mit sehr vielen Hürden verbunden. Viele Patienten mit seltenen Erkrankungen fühlen sich mit ihren Problemen allein gelassen.

Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Es beginnt oft mit einem einzigen, winzigen Bruch. Die DNA-Kette hat einen kleinen Schaden abbekommen, dabei wird die Abfolge der Bausteine, der Code des Lebens, verändert. Eine Mutation ist entstanden. Sie kann von Generation zu Generation weitergereicht werden und manchmal sogar lebensgefährliche Folgen haben.

"Der Mensch hat 23.000 Gene, und es gibt 6.000 bis 8.000 seltene Erkrankungen. Ungefähr 80 Prozent davon sind genetisch bedingt", sagt der Mediziner und Genetiker Kaan Boztug. Jede einzelne dieser Störungen mag für sich genommen zwar rar sein, doch in ihrer Gesamtheit sind sie es nicht.

Gar nicht wenige

"Man schätzt, dass fünf bis acht Prozent der Bevölkerung eine seltene Krankheit haben." Allein in Österreich gehen Experten von rund 400.000 Betroffenen aus. Oft werden die Defekte erst spät diagnostiziert, viele dürften der Wissenschaft noch gänzlich unbekannt sein.

Bei den Patienten kommt es deshalb oft zu Folgeschäden. "Das ist für das Gesundheitssystem enorm ineffizient", wie Boztug betont. Man kann eine unerkannte Krankheit schließlich weder frühzeitig behandeln noch eine Sekundärprophylaxe gegen die mit ihr verbundenen Gesundheitsprobleme betreiben. Die daraus resultierenden Kosten sind gewaltig, das menschliche Leid ebenfalls.

Neue Task force

Um die Erforschung solcher Krankheiten zu optimieren und den betroffenen Menschen eine bessere Betreuung zu bieten, wurde nun das Zentrum für seltene und unbekannte Erkrankungen (CeRUD) gegründet, das am kommenden Freitag, den 28. Februar, offiziell eröffnet wird.

Die Initiative geht von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, der Universitätsklinik für Dermatologie und dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften aus. Kaan Boztug, Forschungsgruppenleiter am CeMM und Arzt an der Universitätskinderklinik, wird die neue Einrichtung leiten.

Man versteht sich explizit auch als Anlaufstelle für Patienten mit rätselhaften Beschwerden, bei denen bisher noch keine Ursache festgestellt werden konnte. Für ungelöste Fälle, sozusagen. Die CeRUD-Initiative soll zudem die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Experten aus den unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen sowohl innerhalb des Klinikums als auch auf nationaler und internationaler Ebene stärken.

Viele Symptome auf einmal

"Viele dieser Krankheiten sind syndromal", sagt Boztug. Das heißt: Sie ziehen mehrere Organe in Mitleidenschaft. Eine wirksame Behandlung erfordert dementsprechend die interdisziplinäre Arbeit von Spezialisten. Die einzelnen Komponenten der Therapie müssen perfekt aufeinander abgestimmt sein.

Die am Projekt beteiligten Wissenschafter konnten bereits mehrere Gendefekte als Ursachen von seltenen Erkrankungen identifizieren. Dank moderner Sequenziermethoden und anderen technischen Verfahren ist es möglich, das Genom eines Patienten in relativ kurzer Zeit vollständig zu durchleuchten, erklärt Kaan Boztug.

Gene und ihre unbekannten Funktionen

Das heißt allerdings nicht, dass jede Mutation ein leicht interpretierbarer Hinweis ist. "Bei einigen Genen wissen wir noch gar nicht, was sie machen." Und viele Genprodukte wirken auch nur im Zusammenspiel mit diversen anderen Substanzen - als Netzwerk. Fällt einer der Mitspieler aus, kann seine Funktion manchmal von einem anderen Protein übernommen werden, oft aber auch nicht. Dann gibt es Schwierigkeiten.

Die Erforschung von sogenannten monogenetischen Erkrankungen, bei denen ein einziges geschädigtes Gen die Störung auslöst, bietet nicht nur klinische, sondern auch rein wissenschaftliche Perspektiven. Sie ermöglicht den Einblick in komplexe kausale Ketten. Wenn zum Beispiel das Fehlen eines bestimmten Genprodukts über mehrere Stoffwechselschritte zu einer Überproduktion eines anderen Stoffes führt und der Ausgangspunkt dieser Kaskade bekannt ist, lässt sich häufig der gesamte Prozess nachvollziehen. So gelingen wertvolle Einblicke in die Details der menschlichen Physiologie.

Solche Erkenntnisse erleichtern natürlich auch die Entwicklung wirksamer Therapien, betont Kaan Boztug. "Forschung und Klinik gehen Hand in Hand." Ein internationales Expertenteam unter Boztugs Leitung hat vor kurzem den genetischen Hintergrund für eine gefährliche, vererbbare Variante von Darmentzündungen entdeckt.

Beispielhafte Fälle

In einer Großfamilie erkrankten zwei von insgesamt acht Kindern im ersten Jahr nach ihrer Geburt an schwerem Durchfall und starben. Ein drittes Kind entwickelte im Alter von zwei Monaten ein sehr ähnliches Krankheitsbild, überlebte aber. Der Junge litt jedoch in den darauffolgenden Jahren ständig weiter unter Diarrhö. Er wuchs zu langsam und zeigte Anzeichen von Unterernährung. Die behandelnden Ärzte konnten keine Infektion mit krankheitserregenden Viren oder Bakterien feststellen.

Auf Basis einer Darmspiegelung und der Untersuchung von Gewebeproben wurde das Kind dann auf Morbus Crohn, eine entzündliche Erkrankung der Darmschleimhaut, diagnostiziert. Eine entsprechende Therapie schlug allerdings nicht an. Die Mediziner tappten weiterhin im Dunkeln.

Neue Studie

Bei diesem kleinen Patienten traten derweil vermehrt Symptome eines Abwehrdefizits auf. Es schien sich dabei um eine Form des Variablen Immundefektsyndroms zu handeln. Eine neue Spur hatte sich aufgetan, und man wurde endlich fündig.

Durch eine umfassende Untersuchung des Erbguts des Buben fanden Kaan Boztug und seine Kollegen eine bisher unbekannte Mutation in einem Gen, das den Code für die Produktion eines wichtigen Botenstoffs trägt. Dies führt zu einer von fehlgeleiteten B-Zellen ausgelösten Autoimmunreaktion und - in diesem Fall - zu einer chronischen Darmentzündung.

Die detaillierten Studienergebnisse werden demnächst in einer renommierten Fachzeitschrift veröffentlicht. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 25.2.2014)