Michael Spindelegger und Werner Faymann: Man gedenkt und will nicht weiter gestört werden.

Foto: Standard/ Cremer

Mein Vater war Schutzbündler und wurde im Jahr 1934 wegen Hochverrats zu sechs Monaten schwerem Kerker verurteilt. Da er wie auch meine Mutter nach 1934 illegal für die verbotene Sozialdemokratie tätig war, verbrachte er zwischen 1934 und 1937 insgesamt 22 Monate in Gefängnissen und im Anhaltelager Wöllersdorf. Meine Mutter war drei Monate lang in Wien eingesperrt.

Im Dezember 2011 wurde das Rehabilitierungsgesetz vom Nationalrat beschlossen. Das Gesetz verlangt einen Antrag durch einen Angehörigen ersten Grades. Ich stelle Anfang 2013 den Antrag.

Nach einem halben Jahr bekomme ich ein lapidares Schreiben vom Präsidenten des Landesgerichts Wiener Neustadt, dass ein Strafakt meines Vaters "aus den Jahren 1930 bis 1935 weder in der Registratur des Landesgerichts Wiener Neustadt, noch im Amt der NÖ Landesregierung-Landesarchiv abliegt." Mein Vater war aber 18 Monate lang in Wöllersdorf und in den Gefängnissen in Wiener Neustadt und St. Pölten inhaftiert! Sind die Akten etwa vernichtet worden? Die vier Monate Gefängnis, die er wegen illegaler Tätigkeit in Salzburg gesessen hatte, sind aktenkundig, ebenso die Inhaftierung meiner Mutter in Wien.

Die Historiker Oliver Rathkolb und Florian Wenninger, die ich um Hilfe ersuche, nehmen die Sache in die Hand. Nach einem Jahr halte ich schließlich den Bescheid des Landesgerichts für Strafsachen über die erfolgte Rehabilitierung meiner Eltern in Händen. (Der Verdacht, dass das Land NÖ die Akten vernichtet hat, erhärtet sich durch die Formulierung des Bescheids.)

Meinen Eltern wird in dem Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen bescheinigt, dass "ihre Verurteilung wegen Taten erfolgte, die zwischen 6. 3. 1933 und 12. 3. 1938 im Kampf um ein unabhängiges, demokratisches und seiner geschichtlichen Aufgabe bewusstes Österreich begangen wurden". Und dass ihre Verurteilungen "als rückwirkend nicht erfolgt gelten". "Entschädigungs- oder Rückersatzansprüche können nicht geltend gemacht werden."

Ist das eine Rehabilitierung, die einer Republik würdig ist?

Was ist mit jenen, die keine Nachkommen mehr haben? Was ist mit den zum Tod verurteilten Freunden meines Vaters, Hois und Rauchenberger, die am 15. Februar 1934 standrechtlich verurteilt und in St. Pölten gehängt wurden? Hois hatte keinen Schuss abgegeben und drei kleine Kinder. Denen gewährt die Republik keine Rehabilitierung? Sie haben ihr Leben für Freiheit und Demokratie geopfert und bleiben in alle Ewigkeit rechtskräftig verurteilt? Im Namen welchen Rechts? Des "Rechts" der Diktatur, die Rechtsstaat und demokratische Verfassung außer Kraft gesetzt hat.

Warum muss überhaupt ein Antrag gestellt werden? Die Rehabilitierung der Verurteilten der Dollfuss/Schuschnigg-Diktatur sollte eine selbstverständliche Bringschuld der Republik Österreich sein und nicht ein Gnadenakt.

Die Nachfolger Dollfuß' und Schuschniggs tun sich schwer, das Unrecht, das die beiden und mit ihnen die gesamte christlich-soziale Bewegung begangen hat, anzuerkennen. Die ÖVP lebt nach wie vor in der Tradition von Dollfuß, Schuschnigg und Seipel. Das Bild des Diktators Dollfuß hängt nicht nur nach wie vor im Zimmer des ÖVP-Parlamentsklubs, sondern auch in unzähligen Bursen des CV, in denen der Arbeitermörder ebenso wie Schuschnigg Ehrenmitgliedschaft genießt. Kaum ein namhafter ÖVP-Politiker hat sich je von Dollfuß distanziert.

So wie Raab und Figl als junge Christlichsoziale in antidemokratischer und antirepublikanischer Tradition sozialisiert worden waren - sie schworen beide 1932 den "Korneuburger Eid" -, so werden junge CVer heute noch mit der Erinnerung an Dollfuß und Schuschnigg sozialisiert.

Unverständlicherweise hat sich aber auch die SPÖ nicht sonderlich für das Rehabilitierungsgesetz stark gemacht. Dabei sind viele Positionen der damaligen Christlichsozialen heute noch in der ÖVP aktuell. Die Geschichte scheint stehengeblieben, wenn man den heutigen Diskussionen um Schulreformen zuhört. Sie erinnern eins zu eins an den Kulturkampf in der Ersten Republik.

Nein, nein, diese Geschichte ist noch lange nicht bewältigt. Bis auf den heutigen Tag wird sie totgeschwiegen. Vielleicht ist jetzt, 80 Jahre nach den Februarkämpfen, die Zeit reif dazu, die verdrängte Geschichte aufzuarbeiten. Nicht nur durch Historiker. Geschichte ist erst dann bewältigt, wenn beide Seiten verstanden werden: Opfer und Täter! (Wilhelmine Goldmann, DER STANDARD, 19.2.2014)