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Martin Schulz will neuer EU-Kommissionspräsident werden.

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STANDARD: Sie gelten als "Erfinder" des Modells, dass die Parteifamilien für die EU-Wahlen gemeinsame Spitzenkandidaten aufstellen, der Gewinner wird dann Kommissionspräsident. Überrascht Sie die Dynamik, die das nun bekommt?

Schulz: Ich hab's nicht erfunden. Erfinder war eigentlich Kanzlerin Angela Merkel, die bei den Wahlen 2009 plötzlich erklärt hat, dass José Manuel Barroso der Spitzenkandidat der Christdemokraten ist. Ich war damals als Fraktionschef eher ein Opfer, weil die Sozialdemokraten keinen Spitzenkandidaten hatten. Wir haben nun aber gesagt, das ist eine clevere Idee. Nach der Inkraftsetzung des EU-Vertrages von Lissabon ergibt sich das zudem aus der Logik des Vertrages. Das Parlament hat nun ein entscheidendes Recht, den Kommissionspräsidenten mitzubestimmen. Da macht das Sinn.

STANDARD: Barroso war bereits Präsident. Jetzt haben alle Fraktionen einen Spitzenkandidaten.

Schulz: Es macht Sinn, wenn man personalisiert. Es ist aber auch nicht nur so, dass der Vertreter der stärksten Partei Kommissionspräsident wird, sondern diejenige oder derjenige, die/der im Parlament eine Mehrheit hat. Es wird nach der Wahl sieben oder acht Fraktionen geben. Also wird es zu Koalitionsbildungen kommen. Es wird derjenige Kommissionspräsident werden, der eine Mehrheit hinter sich hat.

STANDARD: Merkel sagte, es gebe keinen Automatismus für Sieger, die Regierungschefs würden entscheiden.

Schulz: Die Regierungschefs wissen selber ganz genau, was eines der großen Probleme der EU ist: dass die Menschen nicht das Gefühl haben, dass die Union demokratisch ist. Was wir jetzt machen, ist ein Stück Demokratieverbesserung, indem wir personelle Angebote unterbreiten. Gestern haben wir gehört, dass Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident werden will, ich bewerbe mich, weil ich es werden will. Für die Liberalen tritt Guy Verhofstadt an. Und jetzt gehen wir in einen Wahlkampf. Würden die Regierungschefs nach der Wahl sagen, das Ergebnis interessiert uns nicht, könnte man bei der Bestellung des Kommissionspräsidenten wohl kein größeres Enttäuschungspotenzial aufbauen.

STANDARD: Formal aber denkbar.

Schulz: Ich glaube, das, was die Menschen aus dem nationalen politischen Prozess kennen, dass nämlich nach einer Wahl eine Exekutive gebildet wird, genau das müssen wir auch auf der europäischen Ebene nachholen. Nur dann identifizieren sich die Bürger mehr mit diesem Prozess.

STANDARD: Es gibt viele, die sagen, ein Deutscher könne nicht Kommissionschef sein, Merkel sei in der Eurozone ohnehin viel zu stark.

Schulz: Ich begegne diesem Argument jeden Tag, mehrfach. Einer der Gründe, warum ich mich bewerbe, liegt darin, dass wir nicht mehr in einem Zustand sind, in dem über die Qualität einer Person und ihre politische Ausrichtung, sondern vor allem über ihre Herkunft, über ihre Nationalität diskutiert wird. Ich glaube aber, dass die Leute in mir weniger den Deutschen als den Vertreter der Interessen der Union sehen.

STANDARD: Nationalität sollte also keine Rolle spielen?

Schulz: Die Tatsache, dass José Manuel Barroso Portugiese ist, hat in den vergangenen zehn Jahren keine Rolle gespielt, oder dass Ratspräsident Herman Van Rompuy ein Belgier ist. In den Institutionen sind wir alle Europäer. Wenn wir diesen Geist nicht aufrechterhalten, sondern schon dort die Renationalisierung haben, wäre das ein Problem. Wenn der beste Kandidat zum Beispiel aus Malta käme ...

STANDARD: ... dem kleinsten EU-Land ...

Schulz: ... dann soll der auch Kommissionspräsident werden. Klar.

STANDARD: Zum Wahlkampf und zu Ihrem wahrscheinlich wichtigsten Gegenspieler Juncker: Wie soll denn das ablaufen?

Schulz: Der Wahlkampf läuft ja um die Kommissionspräsidentschaft ab. Ob Juncker sich entscheiden will, auch ein EU-Parlamentsmandat anzustreben, das ist etwas, was ich nicht kommentieren möchte. Ich wünsche mir mit ihm einen Austausch von Argumenten um die besseren Lösungsvorschläge. Wir werden in ganz Europa Wahlkampf machen. Es könnte jemand Kommissionspräsident werden, der kein EU-Parlamentsmandat hat. Aber ich bewerbe mich um ein Mandat, weil ich im Kreise meiner Fraktion in Straßburg eine Mehrheit finden will.

STANDARD: Was wird Ihr Hauptprogramm sein? Was werden Sie den Bürgern sagen, warum sie für die SP und für Sie votieren sollen?

Schulz: Erstens, wir brauchen ein Stück der Normalisierung der Demokratie. Wir haben bisher erlebt, dass die Kommissionspräsidenten immer aus der Ebene der Regierungschefs kamen. Es ist aber auch ganz normal, dass einmal ein Kommissionspräsident aus der Ebene des Parlaments kommt. Wir hinken da in der EU ein bisschen hinterher. Das ist ein Motiv. Schauen Sie auf föderale Strukturen in manchen Staaten, da ist es ganz normal, dass ein Regierungschef von der Länderebene kommt. Wenn jetzt ein Kommissionschef aus dem Parlament kommt, wäre das eine Stärkung des Parlaments.

STANDARD: Welche politischen Gründe gibt es für Ihre Kandidatur?

Schulz: Erstens, wir müssen Europa vom Kopf auf die Füße stellen. Ich würde meine Kommissionsbeamten als Erstes fragen, was auf welchen Ebenen erledigt wird. Was besser auf lokaler Ebene geregelt wird, das sollte auch dort gemacht werden, lokal, regional, national. Das findet auch größere Akzeptanz bei den Bürgern. Zweitens, bei den großen globalen Herausforderungen dieses Jahrhunderts, vom Klima über Energie, weltweiten Handel und Steuerflucht bis zur Kriminalität, stößt der einzelne Mitgliedsstaat an seine Grenzen. Da brauchen wir eine handlungsfähige europäische Exekutive, mit einer klaren Mehrheit im EU-Parlament ausgestattet.

STANDARD: Und drittens?

Schulz: Den Virus der Renationalisierung, dieses Ammenmärchen, man könne die Globalisierung bremsen, indem man sich in den heimischen Vorgarten zurückzieht, den müssen wir bekämpfen. Wir brauchen eine starke Europäische Union, die die Bürger besser schützen kann, als es der einzelne Staat heute könnte. Diese rechts wie links auftretende Radikalisierung ist ein riskantes Spiel mit der Zukunft unserer Kinder.

STANDARD: Wird das Haupthema die Auseinandersetzung mit den Rechtsradikalen sein?

Schulz: Nein. Ich werde den Wählern klar sagen, wenn man euch erzählt, es gehe um die EU als solche, dann erzählen die Unsinn. Die EU ist am 26. Mai immer noch da, dem Tag nach der Wahl. Die entscheidende Frage ist vielmehr, welche EU wir machen. Ich nehme viele kritische Bemerkungen zur EU sehr ernst. Sie ist nicht demokratisch genug, sie ist nicht ausreichend effizient, sie ist zu bürgerfern und bürokratisch. Das sind Dinge, die man verändern kann.

STANDARD: Wird es einen einfachen Slogan geben in der Art von "Wählen Sie SP und Schulz, weil ..."?

Schulz: Das wird es nicht geben. Aber ich kann da gerne weiterhelfen. Mein erster Kampf wird der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit sein. Und ich sage Ihnen, warum, das können Sie genau so aufschreiben. Ich bin ein nachkriegsgeborener Deutscher. Von meinen Eltern sind Opfer verlangt worden, wenn man solche heute verlangen würden, würden die Leute uns fragen, ob wir noch normal sind: längere Arbeitszeiten, geringere Gehälter, keine Leistungen des Staates, Schulgeld, Kindergartengeld, was weiß ich. Mein Vater war ein kleiner Polizeibeamter, hatte fünf Kinder. Der ist zum ersten Mal auf Urlaub gefahren, da war er 60 Jahre alt.

Warum wurden die Regierungen, die den Menschen derart viel abverlangt haben, nach dem Krieg akzeptiert? Weil sie den Menschen gesagt haben, das ist für eure Kinder, damit die einmal ein besseres Leben haben. Ich bin Teil einer Generation, in der von den Menschen in Europa Opfer in ungeahntem Ausmaß verlangt werden. Warum? Um Banken zu retten, und ihre Kinder sind uns egal. Deshalb sage ich: Den jungen Leuten eine Arbeit zu geben, ihnen eine Perspektive zu geben und den Eltern zu sagen, wir tun etwas für eure Kinder, das ist der beste Weg zur Rückgewinnung der Glaubwürdigkeit. Die größte Krise Europas ist nicht die Wirtschaftskrise, nicht der Euro, es ist die Krise des Vertrauens von Menschen darin, dass die Politiker sich für sie interessieren.

STANDARD: Also steht die Zukunft der Jugend im Zentrum Ihres Wahlkampfs?

Schulz: Am liebsten würde ich auf mein Wahlplakat schreiben: Haben wir noch das Gefühl, was ein junger Mensch empfindet, der 300 Bewerbungen geschrieben hat und 300 Absagen bekommen hat? Können wir das Leid, die Depression, den Zorn noch verstehen? Haben wir noch das Gefühl für den 52-Jährigen, dessen Kinder noch zur Schule gehen, das Haus ist noch nicht abbezahlt, dem dann gesagt wird: Du bist zu alt, du kriegst keinen Job mehr? Wenn wir das nicht mehr können, dann ist unsere Demokratie verloren. Wenn die Menschen nicht spüren, dass wir uns für sie und ihr Schicksal mindestens so sehr interessieren wie für das Schicksal der Deutschen Bank, dann sind wir verloren. (Thomas Mayer, DER STANDARD, Langfassung, 6.2.2014)