Konrad Paul Liessmann: Wessen Interessen vertritt die SPÖ?

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Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Frau Bundesministerin, geehrte Festgäste!

Eine Schilderung des Zustandes, in den unsere Welt durch den dynamisierten und globalisierten Kapitalismus des letzten Vierteljahrhunderts geraten ist, könnte wie folgt lauten: Der globalisierte Kapitalismus produziert Wunderwerke technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, gleichzeitig aber Verarmung und unvorstellbares Elend für diejenigen, die in den Industriezonen Ostasiens und anderer Weltteile diese Wunderwerke produzieren; der globale Kapitalismus schafft ungeheuren Reichtum für wenige und bisher kaum bekannten Wohlstand für einige privilegierte Regionen dieser Erde, er verschärft aber auch den globalen und lokalen Gegensatz zwischen Arm und Reich; der globalisierte Kapitalismus schafft atemberaubende Schönheit in der kühnen Architektur neuer Finanz- und Konzernzentren, im Design luxuriöser Gegenstände und in der Umgestaltung ganzer Stadtviertel, er führt aber auch zu einer zunehmenden Verhässlichung durch Verödung, Verarmung, Verschmutzung, Vernichtung gewachsener Lebensformen - und dies im Weltmaßstab.

"Blödmaschinen"

Die Innovationen des modernen Kapitalismus erlauben es, immer mehr ehemals durch menschliche Arbeit erledigte Tätigkeiten zu automatisieren und durch digitale Maschinen erledigen zu lassen, ohne dass die Menschen jedoch das Gefühl hätten, in irgendeiner Weise vom Druck einer entwürdigenden Arbeit befreit zu werden; ganz im Gegenteil: Immer mehr Menschen leiden darunter, diesen Maschinen ausgeliefert zu sein. Der Kapitalismus entfaltet vor allem im Bereich der Naturwissenschaften und ihrer Anwendungen ungeheuer beschleunigte Erkenntnisfortschritte, er vervielfacht und vernetzt das Wissen der Menschen in atemberaubendem Tempo, gleichzeitig aber produziert er eine Reihe von "Blödmaschinen", die die Menschen entmündigen und den niveaulosen Attacken der Massenmedien ausliefern. Mit einem Wort: Wir sind weit davon entfernt, in einer Welt zu leben, in der die Lebensmöglichkeiten und Lebenschancen von Menschen einigermaßen gerecht und human verteilt wären.

Vielleicht haben Sie es erkannt: Die Diagnose ist über weite Strecken eine Paraphrase auf eine einmal berühmte Stelle aus jenen Notizen, die sich Karl Marx 1844 im Pariser Exil gemacht hatte. Natürlich wäre es gerade an einem Tag wie heute verführerisch, die erschreckende Parallelität von Gesellschaftsdiagnosen zu verfolgen, zwischen denen mehr als anderthalb Jahrhunderte liegen, aber so einfach können und wollen wir es uns nicht machen.

Denn zu diesen Zeiten, die zwischen diesem frühen Befund und der aktuellen Situation liegen, zählt auch das "sozialdemokratische Jahrhundert", das von dem geadelten deutsch-englischen Soziologen Ralf Dahrendorf eingeführt wurde, um es für beendet zu erklären: "In seinen besten Möglichkeiten war das [20.] Jahrhundert sozial und demokratisch. An seinem Ende sind wir (fast) alle Sozialdemokraten geworden. Wir haben alle ein paar Vorstellungen in uns aufgenommen und um uns herum zur Selbstverständlichkeit werden lassen, die das Thema des sozialdemokratischen Jahrhunderts definieren: Wachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat, Internationalismus." Um dann zu dem vieldiskutierten Schluss zu kommen, dass das sozialdemokratische Programm wohl attraktiv sei, "nur eben: Es ist ein Thema von gestern".

Auch ein Lord irrt

Nun ja, auch ein Lord kann sich irren. 30 Jahre später liest es sich es sich anders. Keines der damals benannten Themen hat sich nämlich erledigt. Auch das verkündete Ende der Geschichte erweist sich als deren Wiederkehr.

Vieles, was in dieser Geschichte tatsächlich zu den zentralen Elementen, Aufgaben, Zielen und Forderungen der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung gehört hat, kehrt unter geänderten Bedingungen und in neuer Form wieder. Einiges davon, was uns in naher Zukunft erwarten könnte und worauf eine Partei wie die Sozialdemokratie nach ihrem historisch verankerten Selbstverständnis Antworten anbieten kann und soll, möchte ich mit groben Strichen skizzieren. Ich konzentriere mich dabei vor allem auf das Verhältnis von Staat und Demokratie.

Die moderne Demokratie gründet auf zwei Voraussetzungen: dem Territorialstaat und der Nation, also dem Staatsvolk, gedacht als Einheit freier Bürger. Beides droht zu verschwinden. Nicht nur die politische Internationalisierung wie im Fall der EU, vor allem die ökonomische und telekommunikative Mobilität, die auch eine Mobilität von Kapital und Menschen ist, bringt das Staatskonzept des 19. Jahrhunderts ins Wanken. Urheberrechtsprobleme im Internet, Steuerrechtsprobleme bei internationalen Produktionsprozessen, der nahezu staatenlose Charakter des mobilen Finanzkapitals und ein zunehmender Migrationsdruck als Resultat eines globalen ökonomischen, sozialen und ökologischen Gefälles sind nur die Zeichen eines allmählichen Verschwindens des Staates in vertrauter Gestalt: als einer Gemeinschaft in Grenzen, die aus diesen Grenzen ihre Souveränität als politisches Subjekt bezog.

Mit der allgemeinen Mobilität geht allerdings ein radikaler Wandel der politischen Öffentlichkeit überhaupt einher. Diese war bisher von einer Parteienlandschaft geprägt, die ihre Grundstruktur aus dem 19. Jahrhundert bezog und an die Trennung der Gesellschaft in deutlich abgrenzbare soziale Klassen und Schichten anknüpfte. Nach einer Beobachtung des Göttinger Politologen Franz Walter haben sich Struktur und Selbstverständnis traditioneller Parteien seit Mitte des 20. Jahrhunderts grundlegend gewandelt: Aus Parteien, die in einem sozialen und kulturellen Milieu verankert waren und dieses Milieu über weite Strecken auch gestaltet haben, sind Interessenvertretungen und Wahlvereine geworden, die in den unterschiedlichsten Gremien, vom Gemeinderat über nationale Parlamente bis zum EU-Parlament ihre "Lobbyarbeit" verrichten sollen.

Dieser Strukturwandel traf vor allem die Sozialdemokratie, die sich in ihrer Geschichte bewusst als Milieupartei verstanden hatte: Im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft sollte so etwas wie ein Gegenmodell zu dieser eingewoben werden: ein dichtes Netz von Vorfeldorganisationen, sozialen und wirtschaftlichen Institutionen, kulturelle und bildende Einrichtungen: All das sollte eine Lebensform und ein Lebensgefühl ermöglichen, das es dem einzelnen Mitglied nicht nur erlaubte, sich in einem sozialen und kulturellen Biotop zu verankern, sondern in diesem auch Lebens- und Karriereverläufe zu planen und zu verfolgen. Solch eine Partei hatte ihren Anhängern, Mitgliedern und Funktionären mehr zu bieten als ehrenamtliche Tätigkeit und die Chance, alle paar Jahre in einer Wahlzelle ein Kreuz zu machen. In dem Maße, in dem die Angebote verschwunden sind, stellen sich auch die Fragen für eine Partei anders, vor allem in Hinblick auf eine Frage: Wessen Interessen vertritt sie? Diese Frage ist alles andere als einfach zu beantworten.

Die sozial- und weltanschaulich gebundenen Parteigängerschaften lösen sich nämlich auch in dem Maße auf, in dem moderne Menschen in entwickelten Gesellschaften nicht mehr auf eine eindeutige Interessenlage festgelegt werden können. Fast jeder Mensch in einer modernen Gesellschaft hat unterschiedliche, oft einander widersprechende Interessen. Diese sind im Wesentlichen durch die Chancen bestimmt, die der Einzelne nun im Kampf um Bildung, Einkommen, Karriere und Anerkennung für sich wahrzunehmen glaubt. Man könnte glauben, es genüge, dafür zu sorgen, dass in diesem Kampf die meisten Menschen ähnlich gute Ausgangschancen haben. Doch, und dies darf nicht vergessen werden: "In der Chance lauert auch das "Menetekel des Scheiterns" (Walter).

In der Chancengesellschaft, die nicht zuletzt auch von der Sozialdemokratie favorisiert wurde und wird, verstehen sich die "Chancenbefähigten nicht mehr als kollektive Akteure, sondern als individuelle Jäger um die Beute des sozialen Aufstiegs, des Prestigegewinns, der materiellen Zusatzgratifikation", und wer in dieser "individualisierten Schlacht durch rigide Chancen nicht mithält, hat rundum und für alle Mal verloren" (Walter). Unter diesen Bedingungen wäre ein Konzept von Solidarität zu reaktivieren, dem es nicht nur um die Etablierung von Chancengerechtigkeit geht, sondern auch um Angebote für diejenigen, die, gerade weil es Chancengerechtigkeit geben mag, zu den Verlierern zählen. Solidarität bedeutet, dass den durch eine neoliberale Transformation der Gesellschaft bedingten neuen Formen von Benachteiligungen nicht ausschließlich durch den Verweis auf Erhöhung von Chancengleichheit begegnet werden kann.

Jenseits der Frage, wie Demokratie heute zu denken ist, bleibt die Besorgnis, dass jede Variante nur noch ein Spiel an der Oberfläche darstellt, hinter der sich die Wirtschaftsakteure als die eigentlich treibenden Kräfte ohne jede politische Kontrolle durchsetzen. Die Frage nach dem Staat ist heute immer auch die Frage, welche Mittel und Wege staatlichem Handeln noch zur Verfügung stehen, um ordnungspolitische Aufgaben zu erfüllen und Regeln zu definieren und zu setzen, die den Menschen nicht nur ihre Freiheit garantieren, sondern diese auch davor schützen, dass alle Lebensbereiche den Prinzipien des Marktes bzw. den Interessen monopolähnlicher Marktbeherrscher unterworfen werden.

Grenzen suchen

Es gehört zu den großen Aufgaben unserer Zeit, sich dieser Frage bewusst zu werden und nach Möglichkeiten einer sinnvollen Grenzziehung zwischen Markt und Gesellschaft zu suchen. Viel wäre schon gewonnen, wenn man davon ausgehen könnte, dass Dinge, auf die Menschen einen Rechtsanspruch haben, nicht den Märkten allein überantwortet werden können, denn Märkte schaffen Optionen "nur" für zahlungsfähige Marktteilnehmer.

Das Verhältnis von Staat, Markt, Gesellschaft und Demokratie lässt sich allerdings auch von einer anderen Seite beleuchten. Neben der neoliberalen Kritik am unnötigen und unzulänglichen Staat gibt es auch eine Tendenz, den Staat für jedes soziale oder gesellschaftliche Defizit in die Verantwortung und Pflicht zu nehmen. Es stimmt schon: Der Verantwortung, die uns auch uns selbst gegenüber aus unserer Freiheit erwächst, zeigen wir uns oft nicht gewachsen. Viele erwarten sich deshalb auch von einem generellen Vormund die Lösung nahezu aller Probleme.

Es besteht die Gefahr, dass der Staat letztlich zu einer moralischen Anstalt degradiert wird, in der ständig das Gute und moralisch Richtige beschworen wird, ohne dass noch die Kraft und die Macht dahintersteckte, dieses auch zu verwirklichen. Kann es wirklich Aufgabe des Staates sein, nicht nur für einigermaßen gerechte Rahmenbedingungen zu sorgen, sondern gleich das individuelle Glück seiner Bürger zu bestimmen und zu garantieren?

Neues Staatskonzept

Demokratie und Staat und die Fragen von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit sind in der Moderne untrennbar aneinander gekoppelt. Unter den Bedingungen der Gegenwart lassen sich die traditionellen Formen dieses Verhältnisses offenbar nicht mehr aufrechterhalten. Was nottut, ist ein Konzept von Demokratie, das auf neue ökonomische und technische Entwicklungen zu reagieren weiß, ohne die Errungenschaften des repräsentativen Parlamentarismus auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene weiter zu schwächen; was nottut, ist ein europäisches Staatskonzept, das den Staat mehr sein lässt als einen Verwalter der Armut, ohne dass der Bürger in seinen ökonomischen, sozialen und weltanschaulichen Freiheiten mehr eingeschränkt würde, als unbedingt sein muss. Was nottut, ist eine breite Auseinandersetzung zur Frage, wo die Grenzen zwischen Markt, Macht und sozialer Gerechtigkeit verlaufen, was nottut, ist eine Debatte darüber, wie weit die Merkantilisierung der Gesellschaft und des Lebens gehen soll. Was nottut, ist eine Wiedergewinnung des Politischen. (Konrad Paul Liessmann, DER STANDARD, 11.1.2014)