Eine der im Eis "konservierten" Fotodokumente zur "Imperiale Trans-Antarktis-Expedition" (1914-1917) zeigt den Wissenschaftler Alexander Stevens an Deck der Aurora.

Foto: Antarctic Heritage Trust

Antarktisches Panorama: die jüngst gefundenen Aufnahmen stammen vermutlich von Arnold Spencer-Smith, der die Expedition als Kaplan und Hobbyfotograf begleitete und das Abenteuer nicht überlebte.

Foto: Montage / Antarctic Heritage Trust

Während in der Antarktis 74 Menschen auf dem festsitzenden Forschungsschiff Akademik Schokalski, versorgt mit reichlich Nahrung und Internetanschluss, auf ihre Abholung warten, erinnert ein außergewöhnlicher Fund an die Zeit, als Expeditionen an den Südpol noch echte Abenteuer und Pionierarbeit waren, die viele Teilnehmer mit dem Leben bezahlen mussten: Forscher des neuseeländischen Antarctic Heritage Trust haben eine Kiste mit 100 Jahre alten und zu einem Eisklumpen gefrorenen Negativen entdeckt. Die Konservatoren haben die Zellulosenitratnegative akribisch voneinander getrennt, vom groben Dreck befreit und aufgearbeitet, so dass am Ende 22 Fotografien übrig blieben, die eindeutig der Ross Sea Party von Ernest Shackleton zugeordnet und damit um 1917 datiert werden konnten (siehe "Wissen").

Gefunden wurde der Fotoklotz im von Robert Scott 1911 errichteten Basislager auf der Ross-Insel, die über das Ross-Schelfeis fest mit der Antarktis verbunden ist. Die Hütte diente als Ausgangspunkt für mehrere Expeditionen jener Zeit und verfügte sogar über eine eigene Dunkelkammer, in der auch die bekannten Expeditionsfotografen Herbert Ponting und Frank Hurley gearbeitet haben. Der Antarctic Heritage Trust kümmert sich um die Konservierung des Denkmals. Auch mit Google gibt es eine Partnerschaft - über das Weltwunderprojekt des Internetkonzerns kann man sich sogar in Streetview-Manier durch Scotts Hütte bewegen.

Das heißt allerdings nicht, dass bereits alles entdeckt wurde. In mühevoller Kleinarbeit werden die 8500 Gegenstände vor Ort Stück für Stück konserviert, so dass immer wieder Funde bekanntgegeben werden. Zu den öffentlichkeitswirksamsten gehörten bislang jedoch lediglich zwei Blöcke Butter sowie fünf Kisten mit Whisky und Brandy. Die nun gefundenen Negative dürfen deshalb durchaus als Sensation bezeichnet werden.

Zu sehen sind meist Landschaften, doch es gibt auch zwei Personenaufnahmen. Beide zeigen den Geologen und leitenden Wissenschafter der Expedition, Alexander Stevens. Die Qualität der Bilder kann bei weitem nicht mit jener der Aufnahmen der beiden bekannten Antarktisfotografen Herbert Ponting und Frank Hurley mithalten - sie sind weder besonders harmonisch gestaltet, noch zeigen sie spektakuläre Landschaften oder Situationen. Kein Wunder, denn sie stammen vermutlich von Arnold Spencer-Smith, dem Kaplan und Hobbyfotografen der Ross Sea Party. Er gehört zu jenen dreien, die die Expedition nicht überlebten.

Magie des Vergangenen

Dennoch geht ein ganz besonderer Zauber von diesen Fotografien aus. Zum einen ist da die Magie des längst Vergangenen, der Nachricht, die uns wie eine Flaschenpost mit erheblicher Verzögerung erreicht. Zum anderen haben sie großen Seltenheitswert: Zwar wurde damals schon viel fotografiert, aber eben nur relativ wenig in der Antarktis. Getreu Roland Barthes' "Es ist so gewesen" ruft es uns zudem die Abenteuer und Gefahren jener Zeit ins Gedächtnis - schließlich wissen wir heute um die Dramatik der gescheiterten Expedition.

Last, but not least ist es auch das Aussehen der 22 geretteten Bilder, in denen sich die Spuren der Zeit und der Zerstörung wie Narben in einem Gesicht bemerkbar machen, was ihnen einen ganz eigenen, "authentischen" Charakter verleiht, den man in den digitalen Fotografien von heute vermisst, in die man ihn mittels Retrofiltern nachträglich einbaut, weil man in der schnelllebigen digitalen Welt Sehnsucht nach Beständigkeit hat. Wer heute ein Foto mit seinem Smartphone macht, wird wohl kaum die Illusion haben, dass man dieses Bild auch noch in 100 Jahren "bewundern" können wird.

Um jedoch fair zu bleiben: Den 22 Negativen wäre ein ähnliches Schicksal vorbestimmt gewesen wie den heutigen JPEG-Dateien: Sie haben die vergangenen 98 Jahre nicht trotz, sondern gerade wegen der extremen Witterungsbedingungen in der Antarktis überstanden. Denn der damals verwendete Zellulosenitratfilm, auch als Nitrofilm bekannt, gilt als sehr unbeständig, und der Zersetzungsprozess wird in der Regel durch hohe Temperaturen und Luftfeuchtigkeit beschleunigt. Beides ist in der Tiefkühlkammer Antarktis nicht vorhanden, es herrschen dort quasi ideale Bedingungen. Gänzlich aufgehalten werden kann der Zersetzungsprozess dennoch nicht, so dass man von Glück sprechen kann, dass die Bilder noch frühzeitig gefunden wurden. Andernfalls wären Butter, Whisky und Brandy die größten Highlights in der alten Holzhütte geblieben. (Damian Zimmermann, Album, DER STANDARD, 4./5./6.1.2014)