Im Kampf gegen die Ignoranz: Nazif Mujic in "An Episode in the Life of an Iron Picker".

Foto: Filmfestival This Human World

Wien - Nazif ist ein ruhiger Mann. Seine Arbeit erledigt er gewissenhaft und konzentriert, ob er nun allein im verschneiten Wald Bäume fällt oder auf der Müllhalde nach Altmetall sucht. Das Holz braucht er, damit seine Familie nicht friert, das wenige Geld vom Schrotthändler für Essen und Strom. Das bosnische Dorf, in dem er mit Frau und zwei Kindern lebt, ist im Winter menschenleer. Manchmal aber ruft Nazif Nachbarn um Hilfe. Dann kann er auf helfende Hände zählen.

Zu Beginn von An Episode in the Life of an Iron Picker dokumentiert der Bosnier Danis Tanovic nur einen scheinbar gewöhnlichen Familienalltag in einer Roma-Siedlung. Nazif hämmert, sägt und verkauft; seine Frau Senada wäscht, kocht und versorgt die Kinder. Doch dann klagt die schwangere Senada über Schmerzen im Unterleib, und Nazif bringt sie in die Stadt ins Krankenhaus, wo er erfahren muss, dass nur eine Operation ihr Leben retten kann. Dafür fehlen jedoch Geld und Krankenversicherung - der Beginn eines verzweifelten Kampfes gegen soziale Ungerechtigkeit und bürokratische Ignoranz.

Gefilmt wurde mit der Handkamera. Tanovic zieht sich auf die Position des stillen Beobachters zurück, der Film bezieht seine Spannung aus einem klugen Verhältnis von Nähe und Distanz. Tanovic, für sein Kriegsdrama No Man's Land Oscar-prämiert, nahm für den semidokumentarischen Film - alle Darsteller mit Ausnahme der Ärzte spielen sich selbst - eine wahre Begebenheit als Ausgangspunkt für eine erstaunlich zurückhaltende Arbeit.

Nüchterne Kritik

Das Festival This Human World, das von heute, Donnerstag, bis 12. Dezember in fünf Wiener Kinos über achtzig Dokumentar-, Spiel- und Kurzfilme präsentiert, hat mit An Episode ... als Eröffnungsfilm eine gute Wahl getroffen. Denn Tanovics nüchterne Kritik ist für ein Themenprogramm, das sich als "Plädoyer für Menschenwürde und gegen Menschenrechtsverletzungen" positioniert, von besonderer Bedeutung: Auch im Kino darf es nicht um indifferente Anklage, sondern muss es um die Sichtbarmachung sozialer Verhältnisse gehen.

Diese Vorgabe erfüllt seit vielen Jahren auch die britische Dokumentaristin Kim Longinotto, deren jüngste Arbeit Salma im Rahmen der Reihe Women Make Movies zu sehen ist. Die im tamilischen Süden Indiens aufgewachsene Salma wurde als Mädchen neun Jahre lang bis zu ihrer Hochzeit im Elternhaus eingeschlossen. Nun kehrt sie als Schriftstellerin in ihre Heimat zurück. Noch heute kann man die Gitterstäbe sehen, durch die sie als Mädchen auf die Straße blickte.

Longinotto sucht an ihrer Seite jedoch nicht nach Schuldigen, sondern als aufmerksame Beobachterin nach Restriktionen, die ein solches Los erst ermöglichen. An den Arbeiten von Tanovic und Longinotto lässt sich erkennen, dass realistische Darstellung keine Frage dokumentarischer Wirklichkeitstreue ist, sondern eine der moralischen Haltung.

Wie schmal der Grat zwischen nüchterner Beobachtung und Parteinahme indes sein kann, zeigt die Dokumentation Fortress der tschechischen Filmemacher Lukás Kokes und Klára Tasakovská, die sich der Situation in Transnistrien widmet: Die seit dem Sezessionskrieg mit Moldau völkerrechtlich nicht anerkannte Republik zeigt sich als gespaltenes Land, in dem die russischsprachige Mehrheit "ein kleines Paradies" vorfindet, während die Minderheit Repressionen ausgesetzt ist.

Fortress macht den politisch geprägten Alltag anhand von Stimmungen und Schilderungen persönlicher Erlebnisse deutlicher sichtbar, als es eine Erklärung des historisch gewachsenen Konflikts leisten könnte. Am Ende sieht man eine Familie, die zum Jahreswechsel einem Brauch folgend ihre Wünsche auf kleine Papierzettel schreibt - und verbrennt. (Michael Pekler, DER STANDARD, 5.12.2013)