Bild nicht mehr verfügbar.

Alle auf einmal zu essen, und das noch unkontrolliert, geht auf Kosten von Gesundheit und Genussfähigkeit.

Foto: APA/Fabian Bimmer

Im christlichen Glauben ist Völlerei die sechste der sieben Todsünden, die dem Aufstieg ins Paradies im Wege steht. Dabei eröffnet sich das Paradies vielen Menschen bereits zu Lebzeiten im Rahmen der Überflussgesellschaft. Fresssucht, Schwelgerei, Gefräßigkeit, Maßlosigkeit und Unmäßigkeit - eben Völlerei - sind mit ein Grund für die Volkskrankheit Adipositas.

Allerdings ist die Mehrheit der Weltbevölkerung vom Überfluss ausgeschlossen. Auf der einen Seite landen allein in Österreich jährlich 157.000 Tonnen Lebensmittel im Restmüll, auf der anderen Seite hungern laut UN World Food Programme 842 Millionen Menschen weltweit. Für die Überproduktion wird Raubbau betrieben, werden Mitmenschen versklavt, die Meere überfischt, der Regenwald abgeholzt.

Genussfähigkeit geht verloren

Das Wissen um die Produktionsbedingungen hält die wenigsten davon ab, mehr zu kaufen und zu essen als für das Überleben und Wohlbefinden nötig ist. "Es stimmt etwas nicht mit dem Hunger- und Sättigungsgefühl", sagt Ingrid Kiefer, Ernährungswissenschaftlerin, Gesundheitspsychologin und Autorin zahlreicher Bücher über Ernährung.

Sie beobachtet, dass in Kulturen des Überflusses nur mehr ein geringer Teil der Menschen ein vernünftiges Essverhalten und eine vernünftige Einstellung zum Essen hätten. So leiden etwa 50 Prozent der Österreicher unter Gewichtsproblemen. "Sie essen zu viel oder bewegen sich zu wenig – je nachdem wie man es betrachtet", weiß Kiefer. Essstörungen seien im Zunehmen begriffen.

Als ein maßgebliches Problem des unkontrollierten Essens sieht Kiefer die Aufnahme von Nahrung über den Energiebedarf hinaus. Übergewicht mit seinen Begleiterkrankungen - Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Schlaganfall - ist die Folge. Doch zuerst gilt es zu klären: Wie oft esse ich über den Hunger hinaus? Immer oder nur zu bestimmten Zeiten?

"Bei richtiger Völlerei geht die Genussfähigkeit verloren", sagt Kiefer und bestätigt damit das Scheitern des hedonistischen Prinzips: Die Zufuhr von permanent verfügbaren glücksverheißenden Dingen macht das lustvolle Erleben zunichte.

Binge Eating

Wer unkontrolliert große Mengen an Nahrung in sich hineinstopft, überschreitet die Grenze zum Pathologischen. Als "Binge-Eating" wird eine Störung bezeichnet, die dadurch gekennzeichnet ist, dass das Signal der Sättigung nicht mehr wahrgenommen wird. Im Gegensatz zu anderen Essstörungen wie beispielsweise der Bulimie wird das Verzehrte nicht erbrochen.

Am Ende des Völlerns stehen unter anderem Erschöpfung, Schlaf und eine konstante Gewichtszunahme. Essen beginnt das Leben zu beherrschen. So handelt es sich beim Binge-Eating um ein Krankheitsbild mit Suchtcharakter.

Wird Essen für andere Funktionen eingesetzt, zum Beispiel als Kalkül zum Stressabbau oder zur Beruhigung, kann das der erste Schritt zur Esssucht sein.

"Stress animiert uns zu Kampf oder Flucht", weiß Kiefer, "aber fliehen oder kämpfen können wir heute meistens nicht, weil wir sozial angepasst agieren müssen." So bleibe nichts anderes über, als auf Ersatzstrategien zurückzugreifen und gegebenenfalls den Stress "wegzufressen".

Essend die eigene Flucht boykottieren

Mit der unkontrollierten Nahrungsaufnahme wird dem Organismus schwere Verdauungsarbeit zugemutet. Man bringt sich in einen Zustand der geistigen und körperlichen Trägheit. Die Tendenz zum Weglaufen wird durch den Essenden sozusagen selbst boykottiert.

Die Erkenntnis, dass der Grad der Sättigung mit Beweglichkeit einhergeht, beinhaltet bereits eine alternative Strategie zum Stressabbau: Wer sich bewegt, bekommt laut Kiefer automatisch Lust auf bekömmlichere Lebensmittel und kleinere Portionen. Die Ernährungswissenschaft spricht hier von "somatischer Intelligenz".

"Die meisten Menschen wissen, was sie falsch machen. Trotzdem können sie es nicht ändern", sagt Kiefer. Die Umstellung des Essverhaltens ist ein langer, schwieriger und von Rückfällen begleiteter Prozess, handelt es sich doch um Muster, die vielfach schon im Säuglingsalter festgelegt werden.

Natürliches Essverhalten der Kinder

Jeder Mensch kommt mit einem angeborenen Hunger- und Sättigungsgefühl auf die Welt. Das natürliche Essverhalten bei Kindern ist laut Kiefer, einen Tag mehr, einen Tag weniger zu essen. Durch Essen als Belohnungsstrategie, fixe Essenzeiten oder von den Eltern festgelegte Mengen wird es im Lauf der Zeit verlernt. Das natürliche Essverhalten bleibe nur wenigen Menschen erhalten, weiß die Ernährungsexpertin.

Essen bringt eine kurzfristige Belohnung mit sich. Das ist auch bei Suchtmitteln wie beispielsweise Nikotin der Fall. Wo die Süchtigen im Rahmen einer Therapie lernen, ohne ihr Suchtmittel leben zu können, ist das beim Essen anders gelagert, erklärt Kiefer, denn essen müsse jeder. "Wenn Menschen, die am Binge-Syndrom leiden, zu essen beginnen, können sie oft nicht mehr aufhören. Es ist ein "Alles oder nichts". Viele sagen: Es ist leichter, gar nichts zu essen, als weniger zu essen."

Bloß keine Verbote

Eine chronologische Einteilung kann die Lust am Essen gewährleisten: "Wenn es eine bestimmte Speise nur an einem bestimmten Tag gibt, etwa im Rahmen einer Familienfeier, dann freuen sich alle darauf", sagt Kiefer. Das solle auch so bleiben, denn Essen sei mehr als die reine Zufuhr von Energie.

Von Verboten hält die Expertin nichts, es sei denn, es liegt eine medizinische Indikation vor. "Wenn ich Lust auf Schokolade habe, hilft es nichts, wenn jemand sagt: Iss doch einen Apfel", erklärt sie. Durch ein Verbot werde die Speise, auf die man Lust habe, immer interessanter, was im Extremfall sogar eine lustlose Völlerei der "erlaubten" Lebensmittel mit sich bringen könne. Der Hunger bleibe, und man habe niemals das Gefühl, wirklich satt zu werden.

Gegenpol zur Völlerei

Die Ernährungswissenschaftlerin setzt auf Genuss mit Vernunft statt auf Kasteiung oder schlechtes Gewissen. Etwa auf einen Naschtag pro Woche, an dem eine Tafel Schokolade verzehrt wird. Oder jeden Tag eine Rippe. Oder öfters einmal eine ganze Tafel Schokolade, kombiniert mit viel Bewegung.

Der Überflussgesellschaft ist noch ein anderes Extrem zu verdanken, das einen Gegenpol zum Binge-Eating bildet: Bei Orthorexia nervosa - im Unterschied zur Magersucht Anorexia nervosa - sind die Betroffen von gesundem Essen besessen, kasteien sich und reduzieren die Nahrungsaufnahme damit extrem.

"Wo die einen viel zu viel essen, schränken sich die anderen ein, bis hin zur Magersucht", sagt Kiefer. Solche Phänomene würden nur in Gesellschaften auftreten, wo die Verfügbarkeit von Lebensmitteln so groß ist wie bei uns. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 31.10.2013)