Illustration: Fatih Aydogdu

Die "Biologie des menschlichen Geistes" zu ergründen, das sei die zentrale Herausforderung für die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts, schreibt der in Wien geborene Neurobiologe und Nobelpreisträger Eric Kandel in seinem kürzlich erschienenen Buch Das Zeitalter der Erkenntnis . Diese Ansicht scheint sich auch in der westlichen Forschungspolitik durchgesetzt zu haben.

Fast gleichzeitig wurden zwei Mammutprojekte zur Förderung der neurobiologischen Forschung lanciert: Während die Anfang 2013 ausgerufene "BRAIN Initiative" der USA noch in der ersten Planungsphase steckt, hat das "Human Brain Project" der EU schon konkretere Formen angenommen. Vergangenen Sonntag fiel am EPFL-Campus in Lausanne der offizielle Startschuss.

Mit einem gewaltigen Gesamtbudget in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro sollen innerhalb von zehn Jahren neue und bestehende Daten über die Funktion des Gehirns gesammelt und in einem Modell zusammengefasst werden. Dazu werden Informationen zu Nervenfunktionen auf verschiedensten Ebenen herangezogen - beginnend bei molekularen Bausteinen wie Genen und Proteinen, und wie sie die Funktion einzelner Neuronen bestimmen, bis hin zur anatomischen Vernetzung der Zellen und der Arbeitsweise verschiedener Gehirnareale.

80 verschiedene internationale Forschungsstätten sind am Human Brain Project (HBP) beteiligt - darunter vier österreichische: das Institute of Science and Technology (IST) Austria, die Med-Unis in Wien und Innsbruck sowie die TU Graz. Erklärtes Ziel ist die Simulation des Gehirns mit Hochleistungsrechnern. Der umfassende Blick in das Gehirn soll ein besseres Verständnis von Nervensystemen und damit verbundenen Krankheiten ermöglichen.

Neue Supercomputer nötig

"Das Human Brain Project eignet sich hervorragend dafür, sowohl neue Computertechnologien zu entwickeln, als auch Ursachen und neue Behandlungsmethoden von Erkrankungen des Gehirns zu finden. Schließlich kosten neurologische und psychiatrische Erkrankungen Europa im Jahr rund 800 Milliarden Euro, mehr als alle Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, Krebs und Diabetes zusammen", sagt Alois Saria.

Der Leiter des Instituts für experimentelle Psychiatrie der Med-Uni Innsbruck ist der einzige Österreicher im Managementteam des Flaggschiffprojekts und für die Ausbildung von etwa 500 bis 1000 Doktoratsstudierenden verantwortlich. "Es wird eine Vielzahl an Doktorats- und Postdoc-Stellen geben, die direkt aus dem Projekt finanziert werden", sagt Saria. "Wir hoffen, die Strukturen, die im HBP geschaffen werden, auch für das neurowissenschaftliche Doktoratsprogramm in Innsbruck nutzen zu können und damit die Chancen der hier ausgebildeten Hirnforscher auf dem internationalen Markt zu verbessern."

Der Schwerpunkt des Megaprojekts liegt allerdings auf der Entwicklung neuer Kommunikations- und Informationstechnologien. Über 70 Prozent des Budgets sind dafür veranschlagt. Tatsächlich steckt die notwendige Computertechnologie noch in den Kinderschuhen. Neue Methoden wie das Neuromorphic Computing sollen es möglich machen, die große Menge an Daten zu einem sinnvollen Modell zusammenzuführen. Dabei wird die hocheffiziente Funktionsweise von Neuronen auf Computertechnologie übertragen, um die Rechner um ein Vielfaches schneller zu machen.

Diese Supercomputer sind die Voraussetzung für die extrem komplexen Simulationen des Gehirns, wie sie das HBP plant. Vorarbeit dafür haben Grazer Forscher geleistet: Eine Gruppe rund um Wolfgang Maass vom Institut für Grundlagen der Informationsverarbeitung der TU Graz hat bereits Muster der Erinnerungen am Computer nachgebildet, als Spur von Impulsen durch die Nervenzellen. Maass wird die HBP-Untergruppe "Principles of Brain Computation" leiten, welche sich mit der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn beschäftigt.

Grenzenloses Forschen

Doch nicht nur schon jetzt direkt involvierte Forschungsgruppen werden von dem Geldsegen profitieren, externe Projekte könne sich ebenso um Finanzierung bewerben. Im Laufe der vier Jahre dauernden Kernphase des Projekts sollen sich mehr und mehr zusätzliche Forschungsgruppen beteiligen. So soll das HBP eine große Vielfalt an Wissenschaftern einbinden und dadurch einen möglichst breiten Effekt auf die europäische Forschungslandschaft erreichen. Ziel des Projekts sei es auch, die teils fragmentierten und uneinheitlichen Forschungsstrukturen in Europa besser zu organisieren und ihr Potenzial über Grenzen von Nationalstaaten hinweg zu bündeln, betont Alois Saria.

Im Vorfeld gab es allerdings auch harsche Kritik an der Initiative. Es scheint fraglich, ob die hochgesteckten Ziele tatsächlich erreichbar sind. Bereits das Verständnis von einfachsten neuronalen Netzwerken in Modellorganismen wie dem mikroskopisch kleinen Wurm C. elegans, der nur einige Hundert Neuronen besitzt, bereitet den Wissenschaftern größte Schwierigkeiten.

Wie sollen nun die Funktionen eines menschlichen Hirns, das Milliarden Zellen umfasst, ernsthaft verstanden werden? Und das in nur zehn Jahren? "Wo mehr Geld hereinkommt, macht man halt mit", räumt Robert Trappl ein, der das Projekt grundsätzlich unterstützt. Der Leiter des Österreichischen Forschungsinstituts für Artificial Intelligence (OFAI) und Begründer des Departments für medizinische Kybernetik und künstliche Intelligenz an der Med-Uni Wien war an der Ausarbeitung des Projektantrags für die Flaggschiff-Initiative beteiligt.

Umstritten ist auch der Projektleiter, der Neurophysiologe Henry Markram vom EPFL Lausanne, der die treibende Kraft hinter der Entwicklung des HBP war. Der Verdacht, dass nicht nur wissenschaftliche Exzellenz, sondern vor allem konsequentes Marketing durch die EPFL und Markram selbst zur Entscheidung für das HBP führte, kommt immer wieder auf. So fragte sich Rodney Douglas, Leiter des Instituts für Neuroinformatik in Zürich, schon vor der Bewilligung öffentlich: "Soll Europa tatsächlich eine Milliarde Euro für die Vision eines Mannes ausgeben?" und mahnte eine Diversität der Ideen als Grund- lage des wissenschaftlichen Fortschritts ein. Im Juni äußerten auch mehrere deutsche Neurobiologen im Spiegel ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit des HBP.

Modell mit höherer Präzision

Alois Saria von der Med-Uni Innsbruck sieht die Kritik im Allgemeinen nicht berechtigt. Er weist darauf hin, dass die Machbarkeit des Projekts von einer großen Gruppe renommierter Wissenschafter geprüft wurde: "Für die meisten der formulierten Ziele gibt es bereits erste Ergebnisse und experimentelle Ansätze, die als machbar befunden wurden. Die Funktionen des menschlichen Gehirns werden zwar sicher in zehn Jahren nicht zu 100 Prozent vollständig modelliert werden können, aber es wird ein Modell geben, das zum Unterschied des Status quo ausschließlich auf biologischen Daten basiert und eine unvergleichbar höhere Präzision als bisher aufweist."

Darüber hinaus werde es nach der ersten Anlaufphase eine Evaluierung geben, bevor weitere Gelder ausgeschüttet werden. Tatsächlich wurden bisher statt der gerühmten Milliarde nur 54 Millionen für die zweieinhalb Jahre dauernde Startphase bewilligt. Erst danach wird sich zeigen, inwieweit es den Forschern gelingt, das Geheimnis des Denkens ein wenig weiter zu lüften. (Julia Riedl, DER STANDARD, 9.10.2013)