Am Sonntag also Berlin. Angeblich ein schneller Marathon. Aber den Traum von einer guten Zeit habe ich ad acta gelegt. Längst. Das war ein - im Wortsinn - schmerzhafter Lernprozess. Trotzdem war dieses komplett misslungene Trainingsjahr mehr wert, als ich je gedacht hätte

Klar wünscht man sich und einander dann Glück. Und die Zeit in der Wachau war so schlecht nicht. "Da kann ja jetzt nimmer viel schiefgehen", meinten die Blog-lesenden Mitläufer, die vergangenen Sonntag beim letzten Prä-Berlin-Langlauf mit durch die Stadt joggten. Aber sie wussten selbst natürlich auch: In einer Woche kann noch viel in die Hose gehen. Trotzdem bin ich nicht nervös. Denn auf meinem Weg nach Berlin ist alles schiefgegangen, was nur schiefgehen kann. Aber der Reihe nach.

Foto: Thomas Rottenberg

Es begann vor einem Jahr. In Palma. Als Michael Buchleitner nach meinem ersten echten Marathon meinte, dass meine 3 Stunden und 36 Minuten auf der hügeligen, kurvenreichen und extrem windausgesetzten Strecke an einem idealen Kitesurftag nicht nur für einen Newbie eine Hammerzeit seien. "Erfahrene Läufer würden vom Ergebnis locker 20 Minuten abziehen, wenn man es mit anderen Läufen vergleichen will. Da ist viel drin", sagte Buchleitner. 3:15 in Wien? Oder gar 3:10 in Berlin? Buchleitner grinste nur: "Mit dem richtigen Training vermutlich mehr."

Foto: Thomas Rottenberg

Früher waren mir Laufevents wurscht. Ich hatte es mit Paul Habers Mantra gehalten. Der einstige Doyen der Leistungsdiagnostik und heutige Präsident der Hakoah hatte mir einmal gesagt: "Ein Marathon gehört zu den ungesündesten Dingen, die man seinem Körper antun kann. Aber das Training dafür zu den gesündesten." Tatsächlich: Das gecoachte Training für den TUI-Marathon im Vorjahr war ein Hammer gewesen. Der Lauf war dann halt das lustige Topping.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich war angefixt: Wien im Frühling! Aber noch war Winter. Mit meinen Powderbuddies ging es nach Marokko. Eine Woche Skibergsteigen im Hohen Atlas: Jeden Tag ein Gipfel über 4.000 Meter. Mit Blick in die Sahara. Rauf mit Steigeisen - runter durch zischenden Afrikafirn. Klaus Zwirner, unser Bergführer, predigte täglich: "Alle runter vom Gas! Nie über 60 Prozent gehen! Die Rettungskette hier heißt: Es gibt keine Rettungskette."

Foto: Thomas Rottenberg

Wir sind nicht lebensmüde. In der Woche zuvor war eine Tirolerin von einem in einem engen Couloir gestürzten Italiener mitgerissen und von Skiern oder Felsen erschlagen worden. An unserem letzten Tage riss sich eine Innsbrucker Physiotherapeutin bei einem kleinen Sprung beide Kreuzbänder - und musste von 4.100 Metern selbst abfahren. Auf 2.500 Metern wurde sie auf einen Esel geschnallt und über Trekkingpfade ins Tal geschaukelt. Dort rumpelte dann der Bus drei Stunden nach Marrakesch. So etwas kann passieren. Das weiß man vorher. Und geht trotzdem rauf.

Foto: Thomas Rottenberg

Was wir nicht bedachten: Eine Woche ohne Duschen ist so lange okay, solange man die Skiwäsche am Körper trocknen lassen kann. Und alle anderen stinken auch wie die Iltisse. Blöd nur, wenn der Kanonenofen in die Hütte raucht - und man zum Durchtamen vors Haus geht. Nasses Zeug, sternklare Nacht: Irgendwann hustete ich. Der Husten wanderte tiefer. Dann kam Fieber. Natürlich ging ich weiter mit. Wie oft werde ich noch hier oben stehen können?

Foto: Thomas Rottenberg

Selber schuld, die Erste: Die Lungentzündung nietete mich wenige Wochen vor dem Wien-Marathon um. Baba, 3:20. Mein Freund Markus wollte seinen allerersten Marathon laufen: "Am Anfang bin ich immer zu schnell. Da brenn ich aus!" Ich bot mich als Brems-Hase an: 5 Minuten 40 pro Kilometer würden kein Problem sein. Und bei der Halbmarathon-Ziellinie würde ich abbiegen. Spätestens. Sicher.

Foto: Thomas Rottenberg

5.40 gingen easy. Zu easy: Ich blödelte. Hopste. Tanzte. Lief rückwärts. Markus lachte - und hielt das Tempo. Ich sprang die Kilometertafeln zum Abklatschen an. Irgendwann übersah ich den Betonblock, mit dem das Teil am Boden fixiert war. Noch bevor ich aufschlug, verriet mir die Miene von Markus, dass gerade irgendetwas ganz, ganz wild danebengegangen war: "Man hat es gehört."

Foto: Thomas Rottenberg

Markus wollte stehen bleiben, ich schickte ihn weiter: "Nur ein Krampf. Ich hol dich gleich wieder ein." Von wegen. Ich kam bis zum Rotkreuz-Wagen bei der Urania. "Könnt ihr mir was draufgeben?" Ein fassungsloser Blick: "Auf einen Muskelriss? So schaut das nämlich aus. Wir sind Sanis, keine Zauberer." Ich nahm die U-Bahn nach Hause.

Foto: Thomas Rottenberg

Muskelriss, sagten Orthopäde und MR: Hamstring. Alle drei. Jeweils zur Hälfte. Eine klassische Fußballverletzung. Auf das Foul davor steht Rot. Zu Recht. Ich hatte mich selbst gefoult: sechs Wochen Sperre. Mindestens. Selber schuld, Teil zwei.

Eine Freundin - praktische Ärztin - nahm mich zur Seite: "Der Riss hat dir vielleicht das Leben gerettet. Du wärst doch nie im Leben bei der Halbzeit ausgestiegen. Ein Marathon nach einer Lungenentzünung ist Wahnsinn. Ich hätte dich nicht einmal in der Staffel starten lassen." Bis Berlin, meinte sie, wäre das aber gegessen. Trotzdem: "Face the facts. Du bist keine 22 mehr."

Foto: Thomas Rottenberg

Ich lief nach vier Wochen wieder. Langsam und leise winselnd. Langsam ließ auch der sengende Schmerz im Oberschenkel nach. 3:10 in Berlin? No way! Buchleitner coachte uns wieder für den TUI-Trip in Palma. Die Werte mit denen vom Vorjahr zu vergleichen tat mehr weh als der doofe Muskel. Doch dann ging es plötzlich steil bergauf: Der Oberschenkel sah wohl ein, dass Widerstand zwecklos war. Dachte ich.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn da war noch die Sache mit dem Klavier. Das hätten einen Tag später ohnehin die Spediteure geholt. Aber ich musste es ja unbedingt jetzt ans andere Ende der Wohnung tragen. "Zing" machte es - und irgendjemand hatte mir einen Nagel ins rechte Knie gejagt: "Meniskus", sagte Markus am anderen Ende des Pianos. "Nur leicht verknackst", biss ich die Zähne zusammen. Ich hätte fast geheult.

Der Trainingslauf am nächsten Tag endete nach 500 Metern. Das waren 498 zu viel: "Meniskus", sagte Andrea Maruna, meine Physiotherapeutin, am Telefon. "Meniskus", sagte Karlheinz Kristen, mein Orthopäde, in der Ordination. "Nicht laufen, solange du irgendwas spürst! Schon gar nicht schnell!", sagten beide. "Ob du in acht Wochen nach Berlin darfst, sehen wir in siebeneinhalb Wochen."

Foto: Thomas Rottenberg

Die Exit-Strategie kam von meinen Berlin-Laufbuddys Helena und Cornelia: "Wir bremsen dich." Mehr noch: "Wir sagen dir, wann Schluss ist." Die Damen machten Ernst. Ohne Kniestütze durfte ich ihnen nicht unter die Augen kommen. Und nicht nur einmal hörte ich: "Dein rechter Fuß schleift. Du bist raus." Pace und Tempo? Pah. Ich war verzweifelt. Aber: Selber schuld, ich hatte mir das Jahr selbst verdorben. Nach allen Regeln der Kunst.

Foto: Thomas Rottenberg

Nur: Seltsamerweise fühlt es sich nicht so an. Keine Sekunde. Denn aus der kleinen Gang machten die Damen eine offene, langsame und entspannte Langstreckengruppe. Mit Halb- bis Wildfremden. Und siehe da: Es funktioniert. Ist stressfrei, effizient und fröhlich. Macht Spaß, ist kommunikativ und jedes Mal ein feines Erlebnis, bei dem sich neue Horizonte auftun.

Foto: Thomas Rottenberg

Sei es durch die Ansichten der Mitläufer oder die Ansichten, die uns die Stadt offeriert. Bilder und Perspektiven, an denen jeder von uns beim Alleinelaufen mit ziemlich großer Sicherheit einfach vorbeigezogen wäre - mit dem Blick auf Strecke oder Pulsuhr.

Foto: Thomas Rottenberg

Am Sonntag steht also Berlin an. Ich weiß, dass ich der Zeit, die ich vor einem Jahr ins Auge gefasst habe, nicht einmal ansatzweise nahe kommen werde. Ich weiß, dass mir das Knie einen Meter nach der Startlinie oder irgendwann auf der Strecke einen Strich durch die Rechnung machen kann. Ich weiß, dass die Vorbereitung scheiße gelaufen ist.

Foto: scc events

Trotzdem war es ein großartiges, mein bestes Laufjahr: weil ich unendlich viel gelernt habe. Über Sport und Training. Über Ehrgeiz und Grenzen. Über Menschen und Freunde. Über das, was zählt. Über mich selbst - längst nicht nur beim Laufen. Deshalb wird Berlin großartig. Der Weg dorthin war nämlich das Ziel. Ich habe es bloß nicht gewusst. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 25.9.2013)

Foto: Thomas Rottenberg