Das Publikum wählt bequem per Fernbedienung von den Sitzplätzen aus, während vorne computergesteuerte Reden geschwungen werden: in Roger Bernats "Pending Vote". 

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Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlt: Es ist ein Glück, wählen zu dürfen. Im Brut-Theater ist "The Power of Voice", der erste Themenschwerpunkt der neuen Spielzeit, genau diesem ambivalenten Glück gewidmet. Da gibt es ein Rebelodrom-Programm von Gin Müller, eine Audiotour von Stefan Kaegi / Rimini Protokoll und God's Entertainments Show Vienna's Next Top Artist.

Dazu kann man sich vom 19. September bis zum Wahltag am 29. die Wahl mit dem Smellection-Automaten des Budapester Künstlerpaars Igor & Ivan Buharov erriechen. Und am 29. selbst leitet Barbara Ungepflegt nach den nationalrätlichen Hochrechnungen über zur Misswahl 2013.

Am Vorabend der Wahl allerdings, wenn ganz Österreich gespannt vor dem sonntäglichen Ankreuzen steht, kommt der spanische Regisseur Roger Bernat mit seiner Abstimmungsperformance Pending Vote ins Brut Künstlerhaus. Da wird sich zeigen, wie entscheidungsfreudig ein Wiener Publikumsparlament ist.

Bernat ist, salopp gesagt, ein 68er der letzten Tage. Das heißt, er ist 1968 geboren. In seiner Heimatstadt Barcelona studierte er Regie und Dramaturgie. Der Abschluss wurde ihm mit dem Preis Premio Extraordinario 1996 vergoldet. Im Jahr darauf gründete er das Zentrum General Elèctrica für Theater und Tanz mit, das bis 2001 existierte. Als Regisseur erwarb Bernat sich den Ruf eines Provokateurs. Mit seinem Stück Public Domain begann er eine bis heute andauernde Recherche über das Publikum. Entweder, wie dort, in Bedingungen, die das Publikum direkt in die Arbeit involvieren, oder als Dokumentationsformat, wie etwa Rimuski.

Mit Rimuski war Roger Bernat vor fünf Jahren in Wien - im Konzerthaustheater des Brut als Gast der Festwochen. Damals ließ er fünf Fahrer der Wiener African Taxi Association von ihren Erfahrungen berichten. Einer erzählte etwa, wie die Fahrgäste ihre Taxler manchmal wählten: nach der Hautfarbe. Bei einem früheren Stück, Amnesia de fuga, waren pakistanische Flüchtlinge, die in Spanien Unterschlupf gefunden hatten, zu Wort gekommen.

In Public Domain untersuchte Bernat, wie sich das Publikum verhält, wenn es aus seinem vertrauten Umfeld dirigiert wird. "Menschen wollen zusammenarbeiten", sagt der Regisseur. "Wir wollen adäquat auf die Situationen reagieren, in denen wir uns wiederfinden. Das ist ein übergreifendes soziologisches Muster. Wenn wir den Leuten also Fragen stellen, dann werden sie antworten und versuchen zu kooperieren."

Dabei hat der Regisseur keinerlei Interesse daran, sein Publikum bloßzustellen. Das gilt auch für seine aus dem Vorjahr stammende Performance Pending Vote, die bisher ausgiebig getourt ist. Hier erhalten jede Zuschauerin und jeder Zuschauer Fernbedienungen, mit denen sie live abstimmen können. Die Ergebnisse werden durch eine geeignete Software auf Projektionsschirmen sichtbar gemacht und bestimmen den weiteren Verlauf des von einem Computersystem angeleiteten Abends.

In diesem werden Reden geschwungen, und zwar so, dass das Argument der Überzeugung dient und nicht bloß der Selbstdarstellung der Redner. Die Besucher sind für das Stück mitverantwortlich. In einem "User's Manual" auf Bernats Website findet sich die Anmerkung: "Sie werden ein Akteur des Stücks sein. Darin gibt es in Wirklichkeit keine Zuschauer." Distanzierte Beobachtung ist nicht möglich. Denn auch in der Entscheidung, nicht zu partizipieren, ist man immer noch "Teil des Mechanismus".

Eines Mechanismus allerdings, dessen innere Regeln nicht verraten werden. Er soll, so der Regisseur, nicht etwa eine Fiktion von Politik darstellen, sondern "eine Politik der Fiktion". Nach der Aufführung werden die Abstimmungsergebnisse auf Bernats Website veröffentlicht. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 18.9.2013)