Wer einen Fuß auf Grönland setzt, muss sich erst einmal mit sehr fremden Größenverhältnissen auseinandersetzen: Fast jeder Schlittenhundehalter hat hier eine eigene Insel für die Sommerfrische der Tiere ...,

Foto: Sascha Aumüller

... , das tatsächliche Schrumpfen des Inlandseises fällt optisch kaum auf,...

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... und als Kajakfahrer verliert man sich selbst zwischen kleineren Eisbergen.

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Die beschriebene Grönland-Reise dauerte acht Tage - grober Richtpreis: ab 7000 Euro pro Person. 2014 wird sie von Seetour Austria / Ruefa auch in einer 15- oder 16-tägigen Kombination mit Island und Spitzbergen für einen vergleichsweise geringen Mehrpreis angeboten.
Info: www.ruefa.at; seetour@ ruefa.at oder im Ruefa-Reisebüro

Grafik: DER STANDARD

Schwer wie Lebertran liegt die Davisstraße vor Ittileq. Unter beständigem Plätschern teilen zwölf Kajakfahrer gemeinsam den drei Grad kalten Atlantik mit Plastikpaddeln in handlichere Portionen. Ganz so, als hätten sie dem Großen Teich vor der größten Insel der Erde die Leichtigkeit ihres Tuns zu beweisen. Und ganz so, als müssten sie dieser unwirklichen Weite endlich ein Gefühl für Proportionen beibringen. Denn einen einzelnen Menschen, das ist im arktischen Sommer gut zu beobachten, schluckt die freundliche Leere Westgrönlands mit der Maßlosigkeit wohl nur weniger Weltgegenden.

Sommer in Grönland, das ist, wenn die Quecksilbersäule hämisch zu überspielen scheint, dass sie an Ittileqs Hauswänden in der Arktis hängt und gar nicht so selten 20 Grad zeigt. Das ist dann, wenn Hunde zur Sommerfrische auf eine felsige Insel gebracht werden und nur zweimal in der Woche Futter bekommen. Weil der Grönländische Schlittenhund, und darauf sind die Inuit sehr stolz, härter ist als ein Husky und sowieso sinnlos als Schoßhund: Diese Rasse hat sich bis heute nicht der Kreuzungswut von Züchtern unterworfen wie etwa ein holländischer Paradeiser, der längst als robustere Sorte im Grönland-Glashaus gedeiht. Dieser Hund ist ein wilder – und soll es auch im Sommer bleiben, um dann im Winter ungestüm Schlitten zu bewegen.

"Das war mein Ankerplatz, und das die Insel meiner Hunde", sagt Jimmy Hymoeller und deutet vom Kajak aus auf zwei Punkte in der Bucht vor Ittileq, einem Ort mit 120 Einwohnern 50 Kilometer südlich von Grönlands zweitgrößter Stadt Sisimiut. Bis vor zwei Jahren lebte der 37-jährige Däne am nördlichen Polarkreis und unterrichtete in einer Schule Kinder im Alter von sechs bis vierzehn Jahren. Und wie so viele Einheimische, die heute beim "Pila", also im grönländischen Supermarkt Pilersuisoq, dänische Butter, kanadische Erdnussbutter und tiefgefrorenen Polardorsch aus dem Pazifik kaufen, leistete er sich einen Luxus: ein Boot zum Fischen im Sommer und 16 eigene Schlittenhunde zum Jagen im Winter.

Als Eilsache in die Arktis

Ganz bestimmt ist Sommer auf der Insel, wenn Jimmy Hymoeller im T-Shirt vom Eisbrecher ins Kajak steigt. Doch auch er ist mittlerweile abhängig von jenem Zubringer, der Menschen auf der Suche nach Langsamkeit dennoch wie eine Eilsache behandelt. Denn nur ein Schiff wie die MS Fram, das einzige der norwegischen Hurtigruten-Flotte, das bloß Touristen und keine Post mehr bringt, verfrachtet ihn zusammen mit 190 Passagieren derart rasch ins Nirgendwo: vom Flugfeld der ehemaligen US-Militärbasis Kangerlussuaq – wo auch der Kalte Krieg nie wirklich heiß war – durch einen 190 Kilometer langen Ewigkeitsfjord genannten Meeresarm eben bis nach Ittileq.

Hymoeller ist heute Teil dessen, was auf der Fram etwas großspurig als "Expeditionsteam" bezeichnet wird. "Dolmetscher" träfe es wohl besser, auch wenn er über sein Grönländisch selber sagt: "Es reicht fürs Fischen und Jagen – da redet man kaum." Aber er muss ja nicht einmal das meist selbsterklärende Grinsen vieler Inuit beim Anblick der als Polarforscher verkleideten Passagiere übersetzen. Seine Dolmetschleistung besteht vielmehr darin, überhaupt passende Worte für eine Landschaft zu finden, die jeden Landgänger sprachlos macht.

Biersacks Gespür für Fragen

Einen ganz ähnlichen Job wie der Däne hat der Deutsche Steffen Biersack auf der Fram. Der studierte Geologe, der früher auch als Kriminalpolizist in Berlin arbeitete, organisiert noch immer Verhörsituationen – aber mit vertauschten Rollen: "Warum sind wir jetzt doch nicht im berühmten Kangia-Eisfjord? Und warum nicht in Illulisat, wo es laut Fräulein Smillas Gespür für Schnee einhundert Worte für den besonders kinotauglichen Schnee gibt? Und überhaupt, warum kann ein Eisbrecher nicht einmal so kleine Eisberge passieren?" Auf derart investigative Fragen mancher Passagiere könnte Biersack freilich einfach nur mit einer Kurzversion antworten: Weil ihr daheim allesamt einen Lebensstil pflegt, der noch in Grönland die Gletscher ins Schwitzen bringt, und dadurch halt manchen vergleisweise lächerlich unwichtigen Ausflug unmöglich macht. Tut er aber nicht.

Biersacks Langversion klingt sachlich und dadurch nicht weniger dramatisch: "Im 19. Jahrhundert hat der Sermeq Kujalleq seine Gletscherzunge noch durch den Kangia-Fjord bis in den Atlantik gestreckt. Heute macht ihm die Affenhitze derart zu schaffen, dass er immer schneller, immer mehr, aber auch immer kleinere Eisberge durch den Fjord auf Reisen schickt. Sie erinnern sich vielleicht, dass 2007 Angela Merkel nach Illulisat kam, um dem Klimawandel quasi live bei der Arbeit zuzuschauen."

Es ist ein pittoreskes Paradoxon, das nach Politikern auch Pauschaltouristen nach Illulisat zieht: Menschen, so groß wie Mäuschen zwischen Eisbergen, scheinen es nur durch Lebensstil zu schaffen, aus Eismassen Eiswürfel zu machen. Die wären zwar eh geeigneter, um sie auf einem Foto unterzubringen. Aber manchmal schwimmen davon schon so viele im Fjord, dass selbst ein Eisbrecher nicht durchkommt – auch er kann Eis ja nur crushen und sollte nicht damit crashen.

Rund 400 Kilometer weiter nördlich haben die Kajakfahrer den Klimawandel noch nicht ganz so dramatisch gesehen. Die Eisberge, die sie mit ihren Paddeln tätschelten, rührten sich keinen Millimeter. Und jeder Bergsteiger, der derweil von den felsigen Höhen im gigantischen Gletscher Eqip Sermia auf sie herabblickte, wird ihnen bestätigen können: Von dort oben habt ihr wirklich nur ausgeschaut wie harmloser Fliegenschiss. (Sascha Aumüller, DER STANDARD, RONDO, 9.8.2013)

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