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"Unsere Zähne sind nicht auf eine Lebensdauer von siebzig, achtzig oder mehr Jahren zugeschnitten", ist der österreichische Biologe und Evolutionsforscher Franz Wuketits überzeugt.

Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

"No body is perfect" - Dieser Gemeinplatz konkretisiert sich im Laufe eines Lebens spätestens im Zusammenhang mit dem menschlichen Kauwerkzeug, zählt doch Karies zur verbreitetsten Zivilisationskrankheit schlechthin.

Die bislang letzten Erhebungen zur Mundgesundheit in Österreich aus den Jahren 2008 und 2010 zeigten, dass etwa drei Viertel der 18-Jährigen mit kariösen Zähnen zu kämpfen haben. - Ein Problem, das sich im fortgeschrittenen Alter weiter verschärfen dürfte: In Österreich liegt die Wahrscheinlichkeit zwischen dem 35. und 44. Lebensjahr über kein "vollständiges natürliches Gebiss" zu verfügen bei knapp 50 Prozent.

Letztendlich überraschen diese Ergebnisse keineswegs: "Unsere Zähne sind eben nicht auf eine Lebensdauer von siebzig, achtzig oder mehr Jahren zugeschnitten", so der österreichische Biologe und Evolutionsforscher Franz Wuketits.

Schwache Kaumuskeln

Aber nicht nur Karies und Zahnausfall machen dem Menschen das Leben schwer, sondern auch Fehlstellungen oder falsch beziehungsweise unvollständig durchbrechende Weisheitszähne sorgen relativ häufig dafür, dass einem gehörig das Lachen vergeht.

Ab hier beginnt die Sache komplizierter zu werden: Für einige Experten wie etwa den US-amerikanischen Evolutionsbiologen Daniel Liebermann oder den österreichischen Zoologen Gerhard Haszprunar sind schiefe Zahnreihen und schräg wachsende "Achter" - wie die Weisheitszähne noch genannt werden - ein hausgemachtes Problem industrialisierter Gesellschaften. Wir kauen einfach zu wenig: Fast-Food, trinkbares Obst und der kulinarische Einheitsbrei vorgefertigter Häppchen haben dazu geführt, dass unsere Kieferknochen nicht ausreichend wachsen und so nur ungenügend Platz für die Zähne schaffen.

Unser Mund ist eigentlich zu klein für die Weisheitszähne geworden, die sich an der letzten Position irgendwie Platz schaffen müssen, schief oder unvollständig durchbrechen und so für Entzündungen und Fehlstellungen im Kiefer sorgen.

Für Franz Wuketits sind die "Achter" im Prinzip nur mehr nutzlos gewordene Rudimente: "Letztendlich ist die Anlage zu Weisheitszähnen mittlerweile bei vielen Menschen gar nicht mehr vorhanden." - Und wachsen sie dennoch, müssen sie nicht selten gezogen werden: Immerhin zählt die Entfernung der hintersten Backenzähne zu den häufigsten zahnchirurgischen Eingriffen überhaupt.

Genmutation ließ Kiefer schrumpfen

Unser relativ kleines Gebiss macht aber nicht nur Probleme, sondern hat auch einen Sinn. US-Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Mensch im Laufe der Evolution sein großes Gehirn nur auf Kosten eines verkleinerten Kiefers ausbilden konnte.

Eine These lautet, dass beim Menschen eine Genmutation die Kaumuskeln schwächer werden ließ. Die Veränderung betrifft das Gen MYH16, das für die Produktion des Proteins Myosin zuständig ist und so auch für die Ausbildung der Kiefermuskulatur sorgt. Andere Primaten wie etwa Schimpansen oder Makaken verfügen noch über eine funktionstüchtige Variante von MYH16, wodurch ihre Kaukraft rund zehn Mal stärker als die des Menschen ist.

Kleine Klappe, großes Hirn

Hansell Stedman von der Pennsylvania-Universität und sein Forscherteam ermittelten, dass die Gen-Mutation vor etwa 2,4 Millionen stattgefunden haben dürfte. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Funde menschlicher Fossilien mit runderem Schädel, flacherem Gesicht, kleineren Zähnen und schwächerem Gebiss. Zudem begannen die Urmenschen damals auch Werkzeuge herzustellen, die es ihnen ermöglichte Nahrung außerhalb des Mundes zu zerkleinern.

Ohne die starken Kiefermuskeln, die auch eine gewisse Schädelform erforderten, veränderte sich Größe und Gestalt des Kopfes, erklären die Wissenschaftler. Die Folge war, dass der Schädel gewachsen sei und so mehr Platz für das Gehirn schaffen konnte. Laut Stedman habe sich die Größe unseres Gehirns seit der Mutation fast verdreifacht.

Allerdings ist die These nicht unumstritten. - Im Grunde genommen ist das aber unerheblich, müssen wir uns so oder so mit einem relativ kleinen Gebiss durchs Leben beißen. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 2.8.2013)